Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bremscheid, Matthias von. Der christliche Mann in seinem Glauben und Leben. Mainz, 1901.

Bild:
<< vorherige Seite

Gedankens und der Ueberzeugung? Vielleicht bei den
Gelehrten, die bloß dem natürlichen Lichte der Vernunft
folgen? Wie wenige unter ihnen stimmen mit ein-
ander überein? Was der Eine als die höchste Wahrheit
preist, das verwirft der Andere als Thorheit. Heute
erhebt man diese Meinung, dieses System bis zu den
Sternen und morgen findet man, daß es unhaltbar
sei. Heute geht nichts über den Philosophen X. und
wer zu ihm nicht hält, hat keine Geltung in der ge-
lehrten Welt; doch morgen schon fängt sein Ansehen
zu erbleichen an und statt dessen erregt der Philosoph Y.
allgemeine Bewunderung, der dann übermorgen dem
Z. seine Stelle abtreten muß. Die gelehrtesten Männer,
die tiefsten Denker, die größten Genie's sind nicht im
Stande, eine dauernde Schule zu gründen und eine
beständige Einheit der Lehre hervorzurufen. Mit Wuth
bekämpfen sie sich gegenseitig und verdrängen einander
wie auf dem stürmischen Meere eine Woge die andere
verdrängt. Mit Recht hat der bekannte Hegel einst ge-
sagt: "Auf jedes neu auftauchende philosophische System
lassen sich die Worte, die einst Petrus zu Saphira
sprach, anwenden: 'Die Füße derer, die dich begraben,
stehen schon vor der Thür''."

Finden wir denn diese Einheit und diesen unver-
änderlichen Bestand der Lehre vielleicht bei jenen christ-
lichen Genossenschaften, die sich von der katholischen
Kirche getrennt haben? Das gerade Gegentheil. Wie
viele von diesen Secten, die bei ihrem Entstehen viel
Aufsehen machten, sind längst von der Erde verschwunden;

Gedankens und der Ueberzeugung? Vielleicht bei den
Gelehrten, die bloß dem natürlichen Lichte der Vernunft
folgen? Wie wenige unter ihnen stimmen mit ein-
ander überein? Was der Eine als die höchste Wahrheit
preist, das verwirft der Andere als Thorheit. Heute
erhebt man diese Meinung, dieses System bis zu den
Sternen und morgen findet man, daß es unhaltbar
sei. Heute geht nichts über den Philosophen X. und
wer zu ihm nicht hält, hat keine Geltung in der ge-
lehrten Welt; doch morgen schon fängt sein Ansehen
zu erbleichen an und statt dessen erregt der Philosoph Y.
allgemeine Bewunderung, der dann übermorgen dem
Z. seine Stelle abtreten muß. Die gelehrtesten Männer,
die tiefsten Denker, die größten Genie's sind nicht im
Stande, eine dauernde Schule zu gründen und eine
beständige Einheit der Lehre hervorzurufen. Mit Wuth
bekämpfen sie sich gegenseitig und verdrängen einander
wie auf dem stürmischen Meere eine Woge die andere
verdrängt. Mit Recht hat der bekannte Hegel einst ge-
sagt: „Auf jedes neu auftauchende philosophische System
lassen sich die Worte, die einst Petrus zu Saphira
sprach, anwenden: 'Die Füße derer, die dich begraben,
stehen schon vor der Thür''.“

Finden wir denn diese Einheit und diesen unver-
änderlichen Bestand der Lehre vielleicht bei jenen christ-
lichen Genossenschaften, die sich von der katholischen
Kirche getrennt haben? Das gerade Gegentheil. Wie
viele von diesen Secten, die bei ihrem Entstehen viel
Aufsehen machten, sind längst von der Erde verschwunden;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="5">
        <div n="3">
          <p><pb facs="#f0119" xml:id="B836_001_1901_pb0107_0001" n="107"/>
Gedankens und der Ueberzeugung? Vielleicht bei den<lb/>
Gelehrten, die bloß dem natürlichen Lichte der Vernunft<lb/>
folgen? Wie wenige unter ihnen stimmen mit ein-<lb/>
ander überein? Was der Eine als die höchste Wahrheit<lb/>
preist, das verwirft der Andere als Thorheit. Heute<lb/>
erhebt man diese Meinung, dieses System bis zu den<lb/>
Sternen und morgen findet man, daß es unhaltbar<lb/>
sei. Heute geht nichts über den Philosophen X. und<lb/>
wer zu ihm nicht hält, hat keine Geltung in der ge-<lb/>
lehrten Welt; doch morgen schon fängt sein Ansehen<lb/>
zu erbleichen an und statt dessen erregt der Philosoph Y.<lb/>
allgemeine Bewunderung, der dann übermorgen dem<lb/>
Z. seine Stelle abtreten muß. Die gelehrtesten Männer,<lb/>
die tiefsten Denker, die größten Genie's sind nicht im<lb/>
Stande, eine dauernde Schule zu gründen und eine<lb/>
beständige Einheit der Lehre hervorzurufen. Mit Wuth<lb/>
bekämpfen sie sich gegenseitig und verdrängen einander<lb/>
wie auf dem stürmischen Meere eine Woge die andere<lb/>
verdrängt. Mit Recht hat der bekannte Hegel einst ge-<lb/>
sagt: <q>&#x201E;Auf jedes neu auftauchende philosophische System<lb/>
lassen sich die Worte, die einst Petrus zu Saphira<lb/>
sprach, anwenden: 'Die Füße derer, die dich begraben,<lb/>
stehen schon vor der Thür''.&#x201C;</q></p>
          <p>Finden wir denn diese Einheit und diesen unver-<lb/>
änderlichen Bestand der Lehre vielleicht bei jenen christ-<lb/>
lichen Genossenschaften, die sich von der katholischen<lb/>
Kirche getrennt haben? Das gerade Gegentheil. Wie<lb/>
viele von diesen Secten, die bei ihrem Entstehen viel<lb/>
Aufsehen machten, sind längst von der Erde verschwunden;<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0119] Gedankens und der Ueberzeugung? Vielleicht bei den Gelehrten, die bloß dem natürlichen Lichte der Vernunft folgen? Wie wenige unter ihnen stimmen mit ein- ander überein? Was der Eine als die höchste Wahrheit preist, das verwirft der Andere als Thorheit. Heute erhebt man diese Meinung, dieses System bis zu den Sternen und morgen findet man, daß es unhaltbar sei. Heute geht nichts über den Philosophen X. und wer zu ihm nicht hält, hat keine Geltung in der ge- lehrten Welt; doch morgen schon fängt sein Ansehen zu erbleichen an und statt dessen erregt der Philosoph Y. allgemeine Bewunderung, der dann übermorgen dem Z. seine Stelle abtreten muß. Die gelehrtesten Männer, die tiefsten Denker, die größten Genie's sind nicht im Stande, eine dauernde Schule zu gründen und eine beständige Einheit der Lehre hervorzurufen. Mit Wuth bekämpfen sie sich gegenseitig und verdrängen einander wie auf dem stürmischen Meere eine Woge die andere verdrängt. Mit Recht hat der bekannte Hegel einst ge- sagt: „Auf jedes neu auftauchende philosophische System lassen sich die Worte, die einst Petrus zu Saphira sprach, anwenden: 'Die Füße derer, die dich begraben, stehen schon vor der Thür''.“ Finden wir denn diese Einheit und diesen unver- änderlichen Bestand der Lehre vielleicht bei jenen christ- lichen Genossenschaften, die sich von der katholischen Kirche getrennt haben? Das gerade Gegentheil. Wie viele von diesen Secten, die bei ihrem Entstehen viel Aufsehen machten, sind längst von der Erde verschwunden;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Weitere Informationen:

Dieses Werk stammt vom Projekt Digitization Lifecycle am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.

Anmerkungen zur Transkription:

Bei der Zeichenerkennung wurde nach Vorgabe des DLC modernisiert.

In Absprache mit dem MPI wurden die folgenden Aspekte der Vorlage nicht erfasst:

  • Bogensignaturen und Kustoden
  • Kolumnentitel
  • Auf Titelblättern wurde auf die Auszeichnung der Schriftgrößenunterscheide zugunsten der Identifizierung von titleParts verzichtet.
  • Bei Textpassagen, die als Abschnittsüberschrift ausgeweisen werden können, wird auf die zusätzliche Auszeichnung des Layouts verzichtet.
  • Keine Auszeichnung der Initialbuchstaben am Kapitelanfang.

Es wurden alle Anführungszeichen übernommen und die Zitate zusätzlich mit q ausgezeichnet.

Weiche und harte Zeilentrennungen werden identisch als 002D übernommen. Der Zeilenumbruch selbst über lb ausgezeichnet.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bremscheid_mann_1901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bremscheid_mann_1901/119
Zitationshilfe: Bremscheid, Matthias von. Der christliche Mann in seinem Glauben und Leben. Mainz, 1901, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bremscheid_mann_1901/119>, abgerufen am 28.03.2024.