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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
zum Abschluss eines Sühnevertrags zwingen dürfe. Die Lösung des
Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königsrecht war häufig eine
Machtfrage. Nicht immer und nicht überall hat sich das Königsrecht
auf die Dauer durchzusetzen vermocht. So hat sich in Italien die
eigenmächtige Pfändung trotz des Verbotes erhalten 4. Und in nach-
fränkischer Zeit finden wir gerade in den alten Sitzen der Salfranken
die Geschlechterfehde in vollster Blüte.

Das Volksrecht ist Stammesrecht, es ist persönliches Recht der
Stammesgenossen und beansprucht keine Geltung über Personen, die
einem andern Stammesrechte angehören, auch wenn sie in dem Gebiete
wohnen, in welchem jenes das thatsächlich herrschende Recht ist. Das
Königsrecht hat einerseits einzelne Stammesrechte reformiert, andererseits
vermochte es sich auch territoriale Geltung zu verschaffen, indem es
das gesamte Reich oder einzelne Gebiete desselben seiner Herrschaft
unterwarf. Stellen uns die Stammesrechte die Mannigfaltigkeit des in
der fränkischen Monarchie geltenden Rechtes dar, so erscheint das
Königsrecht als der wichtigste Faktor für die Entstehung eines ein-
heitlichen Rechtes.

Das Volksrecht ist im allgemeinen das ältere, das Königsrecht
das jüngere Recht; jenes ist das altertümlichere, dieses im Verhältnis
zu jenem das moderne Recht, welches die das Volksrecht überholen-
den Gedanken der Rechtsreform zum Ausdruck bringt. Das Volks-
recht ist das ius strictum, das strenge, starre und unbeugsame Recht.
Das Königsrecht vertritt im allgemeinen den Standpunkt der Billigkeit
und den Grundsatz der Elastizität des Rechts.

Die Entstehung des Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königs-
recht, das Eindringen des Königsrechtes in das Volksrecht bezeichnet
einen der bedeutsamsten Fortschritte in der Rechtsentwicklung der
fränkischen Periode. Indem das Königsrecht in den Volksgerichten
Wurzel fasste und sich auf gewohnheitsrechtlichem Wege oder auf
dem Wege der Satzung in das Volksrecht einschob, wirkte es als die
treibende Kraft zeitgemässer, den steigenden Kulturzuständen an-
gepasster Fortbildung und Erneuerung des Rechtes und spielte es im
fränkischen Reiche ungefähr dieselbe Rolle, wie das prätorische Recht
in der römischen Rechtsgeschichte. In ähnlicher Weise sehen wir
seit dem dreizehnten Jahrhundert in den nordgermanischen König-
reichen ein Königsrecht entstehen, welches die Neuerungen im Rechte
vermittelt. In gesteigerter Potenz hat nach der Eroberung Englands
das Königsrecht die dort bestehenden Rechtszustände umgestaltet und

4 Wach, Der italienische Arrestprozess S 24 f.

§ 36. Volksrecht und Königsrecht.
zum Abschluſs eines Sühnevertrags zwingen dürfe. Die Lösung des
Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königsrecht war häufig eine
Machtfrage. Nicht immer und nicht überall hat sich das Königsrecht
auf die Dauer durchzusetzen vermocht. So hat sich in Italien die
eigenmächtige Pfändung trotz des Verbotes erhalten 4. Und in nach-
fränkischer Zeit finden wir gerade in den alten Sitzen der Salfranken
die Geschlechterfehde in vollster Blüte.

Das Volksrecht ist Stammesrecht, es ist persönliches Recht der
Stammesgenossen und beansprucht keine Geltung über Personen, die
einem andern Stammesrechte angehören, auch wenn sie in dem Gebiete
wohnen, in welchem jenes das thatsächlich herrschende Recht ist. Das
Königsrecht hat einerseits einzelne Stammesrechte reformiert, andererseits
vermochte es sich auch territoriale Geltung zu verschaffen, indem es
das gesamte Reich oder einzelne Gebiete desselben seiner Herrschaft
unterwarf. Stellen uns die Stammesrechte die Mannigfaltigkeit des in
der fränkischen Monarchie geltenden Rechtes dar, so erscheint das
Königsrecht als der wichtigste Faktor für die Entstehung eines ein-
heitlichen Rechtes.

Das Volksrecht ist im allgemeinen das ältere, das Königsrecht
das jüngere Recht; jenes ist das altertümlichere, dieses im Verhältnis
zu jenem das moderne Recht, welches die das Volksrecht überholen-
den Gedanken der Rechtsreform zum Ausdruck bringt. Das Volks-
recht ist das ius strictum, das strenge, starre und unbeugsame Recht.
Das Königsrecht vertritt im allgemeinen den Standpunkt der Billigkeit
und den Grundsatz der Elastizität des Rechts.

Die Entstehung des Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königs-
recht, das Eindringen des Königsrechtes in das Volksrecht bezeichnet
einen der bedeutsamsten Fortschritte in der Rechtsentwicklung der
fränkischen Periode. Indem das Königsrecht in den Volksgerichten
Wurzel faſste und sich auf gewohnheitsrechtlichem Wege oder auf
dem Wege der Satzung in das Volksrecht einschob, wirkte es als die
treibende Kraft zeitgemäſser, den steigenden Kulturzuständen an-
gepaſster Fortbildung und Erneuerung des Rechtes und spielte es im
fränkischen Reiche ungefähr dieselbe Rolle, wie das prätorische Recht
in der römischen Rechtsgeschichte. In ähnlicher Weise sehen wir
seit dem dreizehnten Jahrhundert in den nordgermanischen König-
reichen ein Königsrecht entstehen, welches die Neuerungen im Rechte
vermittelt. In gesteigerter Potenz hat nach der Eroberung Englands
das Königsrecht die dort bestehenden Rechtszustände umgestaltet und

4 Wach, Der italienische Arrestprozeſs S 24 f.
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[281/0299] § 36. Volksrecht und Königsrecht. zum Abschluſs eines Sühnevertrags zwingen dürfe. Die Lösung des Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königsrecht war häufig eine Machtfrage. Nicht immer und nicht überall hat sich das Königsrecht auf die Dauer durchzusetzen vermocht. So hat sich in Italien die eigenmächtige Pfändung trotz des Verbotes erhalten 4. Und in nach- fränkischer Zeit finden wir gerade in den alten Sitzen der Salfranken die Geschlechterfehde in vollster Blüte. Das Volksrecht ist Stammesrecht, es ist persönliches Recht der Stammesgenossen und beansprucht keine Geltung über Personen, die einem andern Stammesrechte angehören, auch wenn sie in dem Gebiete wohnen, in welchem jenes das thatsächlich herrschende Recht ist. Das Königsrecht hat einerseits einzelne Stammesrechte reformiert, andererseits vermochte es sich auch territoriale Geltung zu verschaffen, indem es das gesamte Reich oder einzelne Gebiete desselben seiner Herrschaft unterwarf. Stellen uns die Stammesrechte die Mannigfaltigkeit des in der fränkischen Monarchie geltenden Rechtes dar, so erscheint das Königsrecht als der wichtigste Faktor für die Entstehung eines ein- heitlichen Rechtes. Das Volksrecht ist im allgemeinen das ältere, das Königsrecht das jüngere Recht; jenes ist das altertümlichere, dieses im Verhältnis zu jenem das moderne Recht, welches die das Volksrecht überholen- den Gedanken der Rechtsreform zum Ausdruck bringt. Das Volks- recht ist das ius strictum, das strenge, starre und unbeugsame Recht. Das Königsrecht vertritt im allgemeinen den Standpunkt der Billigkeit und den Grundsatz der Elastizität des Rechts. Die Entstehung des Gegensatzes zwischen Volksrecht und Königs- recht, das Eindringen des Königsrechtes in das Volksrecht bezeichnet einen der bedeutsamsten Fortschritte in der Rechtsentwicklung der fränkischen Periode. Indem das Königsrecht in den Volksgerichten Wurzel faſste und sich auf gewohnheitsrechtlichem Wege oder auf dem Wege der Satzung in das Volksrecht einschob, wirkte es als die treibende Kraft zeitgemäſser, den steigenden Kulturzuständen an- gepaſster Fortbildung und Erneuerung des Rechtes und spielte es im fränkischen Reiche ungefähr dieselbe Rolle, wie das prätorische Recht in der römischen Rechtsgeschichte. In ähnlicher Weise sehen wir seit dem dreizehnten Jahrhundert in den nordgermanischen König- reichen ein Königsrecht entstehen, welches die Neuerungen im Rechte vermittelt. In gesteigerter Potenz hat nach der Eroberung Englands das Königsrecht die dort bestehenden Rechtszustände umgestaltet und 4 Wach, Der italienische Arrestprozeſs S 24 f.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/299>, abgerufen am 28.03.2024.