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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an dem -
selben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.

Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien
Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr
droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem
ursprünglichen "schwebenden" Zustand zu verhelfen.

Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist
zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten,
um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu
dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vor -
tragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen
und in Bewegung zu bringen. -

Die Gesetzgeber aber verlangen, daß der Vortragende
die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wieder-
gabe für um so vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen
hält.

Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration
durch die Zeichen einbüßt 1, das soll der Vortragende durch
seine eigene wiederherstellen.

Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste,
sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst
wird aus den alten Zeichen abgeleitet, - sie bedeuten nun
die Tonkunst selbst.

1 Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußt, die Phan-
tasie fesselt, wie aus ihr die "Form" sich bildete und aus der Form
der "Konventionalismus" des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht
eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A. Hoffmann,
der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.
Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten - so würde

um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an dem -
selben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.

Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien
Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr
droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem
ursprünglichen „schwebenden“ Zustand zu verhelfen.

Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist
zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten,
um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu
dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vor -
tragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen
und in Bewegung zu bringen. –

Die Gesetzgeber aber verlangen, daß der Vortragende
die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wieder-
gabe für um so vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen
hält.

Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration
durch die Zeichen einbüßt 1, das soll der Vortragende durch
seine eigene wiederherstellen.

Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste,
sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst
wird aus den alten Zeichen abgeleitet, – sie bedeuten nun
die Tonkunst selbst.

1 Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußt, die Phan-
tasie fesselt, wie aus ihr die „Form“ sich bildete und aus der Form
der „Konventionalismus“ des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht
eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A. Hoffmann,
der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt.
Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das
Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine
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[20/0020] um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an dem - selben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß. Der Vortrag in der Musik stammt aus jenen freien Höhen, aus welchen die Tonkunst selbst herabstieg. Wo ihr droht, irdisch zu werden, hat er sie zu heben und ihr zu ihrem ursprünglichen „schwebenden“ Zustand zu verhelfen. Die Notation, die Aufschreibung, von Musikstücken ist zuerst ein ingeniöser Behelf, eine Improvisation festzuhalten, um sie wiedererstehen zu lassen. Jene verhält sich aber zu dieser wie das Portrait zum lebendigen Modell. Der Vor - tragende hat die Starrheit der Zeichen wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen. – Die Gesetzgeber aber verlangen, daß der Vortragende die Starrheit der Zeichen wiedergebe, und erachten die Wieder- gabe für um so vollkommener, je mehr sie sich an die Zeichen hält. Was der Tonsetzer notgedrungen von seiner Inspiration durch die Zeichen einbüßt 1, das soll der Vortragende durch seine eigene wiederherstellen. Den Gesetzgebern sind die Zeichen selbst das Wichtigste, sie werden es ihnen mehr und mehr; die neue Tonkunst wird aus den alten Zeichen abgeleitet, – sie bedeuten nun die Tonkunst selbst. 1 Wie sehr die Notation den Stil in der Musik beeinflußt, die Phan- tasie fesselt, wie aus ihr die „Form“ sich bildete und aus der Form der „Konventionalismus“ des Ausdrucks entstand, das zeigt sich recht eindringlich, das rächt sich in tragischer Weise an E. T. A. Hoffmann, der mir hier als ein typisches Beispiel einfällt. Dieses merkwürdigen Mannes Gehirnvorstellungen, die sich in das Traumhafte verloren und im Transzendentalen schwelgten, wie seine Schriften in oft unnachahmlicher Weise dartun, hätten – so würde

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/20>, abgerufen am 28.03.2024.