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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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die Dur-Tonart und die Moll-Tonart. Die anderen sind
nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Trans-
positionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
aber das ist eine Täuschung. In England, wo die hohe
Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um
einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne daß
ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu
ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vor-
ausgeht und folgt, untransponiert spielen.

Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten
in drei verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke
bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die nämlichen.

Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so
gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk
herabschaut.

Könnte man eine Gegend, so weit das Auge reicht, um
mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das land-
schaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren noch ge-
winnen.

Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die
Moll-Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt - eine
Einschränkung fordert die andere.

Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter
zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegen-
sätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von
Symbolen erreicht - Dur und Moll - Maggiore e Minore
- Befriedigung und Unbefriedigung - Freude und Trauer
- Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben
den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter

die Dur-Tonart und die Moll-Tonart. Die anderen sind
nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Trans-
positionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören:
aber das ist eine Täuschung. In England, wo die hohe
Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um
einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne daß
ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu
ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vor-
ausgeht und folgt, untransponiert spielen.

Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten
in drei verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke
bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die nämlichen.

Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so
gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk
herabschaut.

Könnte man eine Gegend, so weit das Auge reicht, um
mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das land-
schaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren noch ge-
winnen.

Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die
Moll-Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt – eine
Einschränkung fordert die andere.

Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter
zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegen-
sätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von
Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore
– Befriedigung und Unbefriedigung – Freude und Trauer
– Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben
den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter

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[38/0038] die Dur-Tonart und die Moll-Tonart. Die anderen sind nur Transpositionen. Man will durch die einzelnen Trans- positionen einen verschiedenen Charakter entstehen hören: aber das ist eine Täuschung. In England, wo die hohe Stimmung herrscht, werden die bekanntesten Werke um einen halben Ton höher gespielt, als sie notiert sind, ohne daß ihre Wirkung verändert wird. Sänger transponieren zu ihrer Bequemlichkeit ihre Arie und lassen, was dieser vor- ausgeht und folgt, untransponiert spielen. Liederkomponisten geben ihre eigenen Werke nicht selten in drei verschiedenen Höhen der Notation heraus; die Stücke bleiben in allen drei Ausgaben vollkommen die nämlichen. Wenn ein bekanntes Gesicht aus dem Fenster sieht, so gilt es gleich, ob es vom ersten oder vom dritten Stockwerk herabschaut. Könnte man eine Gegend, so weit das Auge reicht, um mehrere hundert Meter erhöhen oder vertiefen, das land- schaftliche Bild würde dadurch nichts verlieren noch ge- winnen. Auf die beiden Siebenfolgen, die Dur-Tonart und die Moll-Tonart, hat man die ganze Tonkunst gestellt – eine Einschränkung fordert die andere. Man hat jeder der beiden einen bestimmten Charakter zugesprochen, man hat gelernt und gelehrt, sie als Gegen- sätze zu hören, und allmählich haben sie die Bedeutung von Symbolen erreicht – Dur und Moll – Maggiore e Minore – Befriedigung und Unbefriedigung – Freude und Trauer – Licht und Schatten. Die harmonischen Symbole haben den Ausdruck der Musik, von Bach bis Wagner und weiter

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/38>, abgerufen am 19.04.2024.