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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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Wird diese Musik jemals erreicht?
"Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von
Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen
soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was
man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll,
verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum
Nirwana."
1 ( Kern , "Geschichte des Buddhismus in Indien").

Ist Nirwana das Reich "Jenseits von Gut und Böse",
so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte.
Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt -
oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene einzulassen. Jen -
seits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst. 2 -
Vielleicht, daß wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um
sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdi -
schen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewußt, öffnet sich
das Gitter. -

Druck der Diererschen Hofbuchdruckerei in Altenburg.

1 Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent
d'Indy
: ".... laissant de cote les contingences et les petitesses de
la vie pour regarder constamment vers un ideal, qu'on ne pourra ja-
mais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher."
-
2 Ich
glaube gelesen zu haben, daß Liszt seine Dante -Symphonie auf die
beiden Sätze " Inferno" und " Purgatorio" beschränkte, "weil unsere
Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte."

Wird diese Musik jemals erreicht?
„Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von
Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen
soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was
man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll,
verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum
Nirwana.“
1 ( Kern , „Geschichte des Buddhismus in Indien“).

Ist Nirwana das Reich „Jenseits von Gut und Böse“,
so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte.
Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt –
oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene einzulassen. Jen -
seits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst. 2
Vielleicht, daß wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um
sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdi -
schen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewußt, öffnet sich
das Gitter. –

Druck der Diererschen Hofbuchdruckerei in Altenburg.

1 Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent
d’Indy
: ».... laissant de côté les contingences et les petitesses de
la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu’on ne pourra ja-
mais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.«

2 Ich
glaube gelesen zu haben, daß Liszt seine Dante -Symphonie auf die
beiden Sätze » Inferno« und » Purgatorio« beschränkte, „weil unsere
Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.“

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[48/0048] Wird diese Musik jemals erreicht? „Nicht alle erreichen das Nirwana; aber jener, der von Anfang an begabt, alles kennenlernt, was man kennen soll, alles durchlebt, was man durchleben soll, verläßt, was man verlassen soll, entwickelt, was man entwickeln soll, verwirklicht, was man verwirklichen soll, der gelangt zum Nirwana.“ 1 ( Kern , „Geschichte des Buddhismus in Indien“). Ist Nirwana das Reich „Jenseits von Gut und Böse“, so ist hier ein Weg dahin gewiesen. Bis an die Pforte. Bis an das Gitter, das Menschen und Ewigkeit trennt – oder das sich auftut, das zeitlich Gewesene einzulassen. Jen - seits der Pforte ertönt Musik. Keine Tonkunst. 2 – Vielleicht, daß wir erst selbst die Erde verlassen müssen, um sie zu vernehmen. Doch nur dem Wanderer, der der irdi - schen Fesseln unterwegs sich zu entkleiden gewußt, öffnet sich das Gitter. – Druck der Diererschen Hofbuchdruckerei in Altenburg. 1 Wie auf Verabredung schreibt mir dieser Tage (1906) Mr. Vincent d’Indy: ».... laissant de côté les contingences et les petitesses de la vie pour regarder constamment vers un idéal, qu’on ne pourra ja- mais atteindre, mais dont il est permis de se rapprocher.« – 2 Ich glaube gelesen zu haben, daß Liszt seine Dante -Symphonie auf die beiden Sätze » Inferno« und » Purgatorio« beschränkte, „weil unsere Tonsprache für die Seligkeiten des Paradieses nicht ausreichte.“

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/48>, abgerufen am 29.03.2024.