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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft
ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren
Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft
wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst
über den Haufen geworfen würden. Das Kind - es schwebt!
Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht
der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine
Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die
Natur selbst. Es ist frei.

Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig be-
griffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht
erkennen noch anerkennen.

Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln
es. Das schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß,
wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen;
kaum, daß es hüpfen darf - indessen es seine Lust wäre,
der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
Sonnenstrahlen zu brechen.

Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre
Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Natur-
widerscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Un-
materialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Un-
körperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann
auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste
Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen
wahrnehmbar sind - welche andere Kunst hat das? -, und
ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener In-
tensität, die vom "Begriffe" unabhängig ist.

Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschrei-

So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft
ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren
Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft
wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst
über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt!
Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht
der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine
Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die
Natur selbst. Es ist frei.

Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig be-
griffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht
erkennen noch anerkennen.

Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln
es. Das schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß,
wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen;
kaum, daß es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre,
der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken
Sonnenstrahlen zu brechen.

Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre
Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Natur-
widerscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Un-
materialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Un-
körperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann
auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste
Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen
wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und
ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener In-
tensität, die vom „Begriffe“ unabhängig ist.

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[8/0008] So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind – es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füßen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist frei. Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig be- griffen noch gänzlich empfunden haben. Sie können sie nicht erkennen noch anerkennen. Sie verleugnen die Bestimmung dieses Kindes und fesseln es. Das schwebende Wesen muß geziemend gehen, muß, wie jeder andere, den Regeln des Anstandes sich fügen; kaum, daß es hüpfen darf – indessen es seine Lust wäre, der Linie des Regenbogens zu folgen und mit den Wolken Sonnenstrahlen zu brechen. Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung. Sie wird der vollständigste aller Natur- widerscheine werden durch die Ungebundenheit ihrer Un- materialität. Selbst das dichterische Wort steht ihr an Un- körperlichkeit nach; sie kann sich zusammenballen und kann auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein; sie hat die höchsten Höhen, die Menschen wahrnehmbar sind – welche andere Kunst hat das? –, und ihre Empfindung trifft die menschliche Brust mit jener In- tensität, die vom „Begriffe“ unabhängig ist. Sie gibt ein Temperament wieder, ohne es zu beschrei-

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/8>, abgerufen am 25.04.2024.