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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Entdeckung.
Allgegenwart der Elektricität, der Kreislauf des Blutes -- -- -- jede
entdeckte Thatsache bedeutet eine Bereicherung. "Die einzelnen Mani-
festationen der Naturgesetze", sagt Goethe, "liegen alle sphinxartig,
starr, fest und stumm ausser uns da. Jedes wahrgenommene neue
Phänomen ist eine Entdeckung, jede Entdeckung ein Eigentum".
Hierdurch wird die Unterscheidung innerhalb des Gebietes des Wissens
zwischen Entdeckung und Wissenschaft recht deutlich; das eine betrifft
die ausser uns liegenden Sphinxe, das andere unsere Verarbeitung
dieser Wahrnehmungen zu einem inneren Besitz.1) Darum kann man
den Rohstoff des Wissens, d. h. die Menge des Entdeckten, recht gut
mit dem Rohstoff des Vermögens -- mit unserem Geld vergleichen.
Schon der alte Chronist Robert of Gloucester schreibt im Jahre 1300:
"for the more that a man can, the more worth he is". Wer viel weiss
ist reich, wer wenig weiss ist arm. Doch gerade dieser Vergleich --
der zunächst ziemlich platt dünken wird -- dient vortrefflich, damit
wir den Finger auf den kritischen Punkt bezüglich des Wissens legen
lernen; denn der Wert des Geldes hängt ganz und gar von dem
Gebrauch ab, den wir davon zu machen verstehen. Dass Reichtum
Macht verleiht und dass Armut verkrüppelt, ist eine verite de La Palisse,
der Dümmste beobachtet es täglich an sich und an Anderen; und doch
schrieb einer der Klügsten (Shakespeare):

If thou art rich, thou'rt poor

wenn du reich bist, bist du arm! Und in der That, das Leben lehrt
uns, dass zwischen Reichtum und Können kein einfaches, direktes Ver-
hältnis herrscht. Wie die Hyperämie des Blutes, d. h. also des Lebens-
trägers, eine Stockung der Lebensthätigkeit, zuletzt sogar den Tod her-
beiführt, so bemerken wir häufig, wie leicht grosser Reichtum lähmend
wirkt. Ebenso ergeht es mit dem Wissen. Wir sahen vorhin die Inder
an Anämie des Wissensstoffes zu Grunde gehen, es waren gewisser-
massen verhungernde Idealisten; die Chinesen dagegen gleichen auf-
gedunsenen parvenus, die keine Ahnung haben, was sie mit dem enorm
angehäuften Kapital ihres Wissens anfangen sollen -- ohne Initiative, ohne
Phantasie, ohne Ideale. Die verbreitete Redensart, "Wissen ist Macht",

1) Goethe legt wiederholt grosses Gewicht auf diese Unterscheidung zwischen
dem "ausser uns" und dem "in uns"; hier, um Entdeckung und Wissenschaft aus-
einander zu halten, thut sie gute Dienste; doch sobald man sie auf das rein philo-
sophische oder auch rein naturwissenschaftliche Gebiet überträgt, ist grosse Vorsicht
am Platze, worüber Näheres am Anfang des Abschnittes "Wissenschaft".

Entdeckung.
Allgegenwart der Elektricität, der Kreislauf des Blutes — — — jede
entdeckte Thatsache bedeutet eine Bereicherung. »Die einzelnen Mani-
festationen der Naturgesetze«, sagt Goethe, »liegen alle sphinxartig,
starr, fest und stumm ausser uns da. Jedes wahrgenommene neue
Phänomen ist eine Entdeckung, jede Entdeckung ein Eigentum«.
Hierdurch wird die Unterscheidung innerhalb des Gebietes des Wissens
zwischen Entdeckung und Wissenschaft recht deutlich; das eine betrifft
die ausser uns liegenden Sphinxe, das andere unsere Verarbeitung
dieser Wahrnehmungen zu einem inneren Besitz.1) Darum kann man
den Rohstoff des Wissens, d. h. die Menge des Entdeckten, recht gut
mit dem Rohstoff des Vermögens — mit unserem Geld vergleichen.
Schon der alte Chronist Robert of Gloucester schreibt im Jahre 1300:
»for the more that a man can, the more worth he is«. Wer viel weiss
ist reich, wer wenig weiss ist arm. Doch gerade dieser Vergleich —
der zunächst ziemlich platt dünken wird — dient vortrefflich, damit
wir den Finger auf den kritischen Punkt bezüglich des Wissens legen
lernen; denn der Wert des Geldes hängt ganz und gar von dem
Gebrauch ab, den wir davon zu machen verstehen. Dass Reichtum
Macht verleiht und dass Armut verkrüppelt, ist eine vérité de La Palisse,
der Dümmste beobachtet es täglich an sich und an Anderen; und doch
schrieb einer der Klügsten (Shakespeare):

If thou art rich, thou’rt poor

wenn du reich bist, bist du arm! Und in der That, das Leben lehrt
uns, dass zwischen Reichtum und Können kein einfaches, direktes Ver-
hältnis herrscht. Wie die Hyperämie des Blutes, d. h. also des Lebens-
trägers, eine Stockung der Lebensthätigkeit, zuletzt sogar den Tod her-
beiführt, so bemerken wir häufig, wie leicht grosser Reichtum lähmend
wirkt. Ebenso ergeht es mit dem Wissen. Wir sahen vorhin die Inder
an Anämie des Wissensstoffes zu Grunde gehen, es waren gewisser-
massen verhungernde Idealisten; die Chinesen dagegen gleichen auf-
gedunsenen parvenus, die keine Ahnung haben, was sie mit dem enorm
angehäuften Kapital ihres Wissens anfangen sollen — ohne Initiative, ohne
Phantasie, ohne Ideale. Die verbreitete Redensart, »Wissen ist Macht«,

1) Goethe legt wiederholt grosses Gewicht auf diese Unterscheidung zwischen
dem »ausser uns« und dem »in uns«; hier, um Entdeckung und Wissenschaft aus-
einander zu halten, thut sie gute Dienste; doch sobald man sie auf das rein philo-
sophische oder auch rein naturwissenschaftliche Gebiet überträgt, ist grosse Vorsicht
am Platze, worüber Näheres am Anfang des Abschnittes »Wissenschaft«.
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[753/0232] Entdeckung. Allgegenwart der Elektricität, der Kreislauf des Blutes — — — jede entdeckte Thatsache bedeutet eine Bereicherung. »Die einzelnen Mani- festationen der Naturgesetze«, sagt Goethe, »liegen alle sphinxartig, starr, fest und stumm ausser uns da. Jedes wahrgenommene neue Phänomen ist eine Entdeckung, jede Entdeckung ein Eigentum«. Hierdurch wird die Unterscheidung innerhalb des Gebietes des Wissens zwischen Entdeckung und Wissenschaft recht deutlich; das eine betrifft die ausser uns liegenden Sphinxe, das andere unsere Verarbeitung dieser Wahrnehmungen zu einem inneren Besitz. 1) Darum kann man den Rohstoff des Wissens, d. h. die Menge des Entdeckten, recht gut mit dem Rohstoff des Vermögens — mit unserem Geld vergleichen. Schon der alte Chronist Robert of Gloucester schreibt im Jahre 1300: »for the more that a man can, the more worth he is«. Wer viel weiss ist reich, wer wenig weiss ist arm. Doch gerade dieser Vergleich — der zunächst ziemlich platt dünken wird — dient vortrefflich, damit wir den Finger auf den kritischen Punkt bezüglich des Wissens legen lernen; denn der Wert des Geldes hängt ganz und gar von dem Gebrauch ab, den wir davon zu machen verstehen. Dass Reichtum Macht verleiht und dass Armut verkrüppelt, ist eine vérité de La Palisse, der Dümmste beobachtet es täglich an sich und an Anderen; und doch schrieb einer der Klügsten (Shakespeare): If thou art rich, thou’rt poor wenn du reich bist, bist du arm! Und in der That, das Leben lehrt uns, dass zwischen Reichtum und Können kein einfaches, direktes Ver- hältnis herrscht. Wie die Hyperämie des Blutes, d. h. also des Lebens- trägers, eine Stockung der Lebensthätigkeit, zuletzt sogar den Tod her- beiführt, so bemerken wir häufig, wie leicht grosser Reichtum lähmend wirkt. Ebenso ergeht es mit dem Wissen. Wir sahen vorhin die Inder an Anämie des Wissensstoffes zu Grunde gehen, es waren gewisser- massen verhungernde Idealisten; die Chinesen dagegen gleichen auf- gedunsenen parvenus, die keine Ahnung haben, was sie mit dem enorm angehäuften Kapital ihres Wissens anfangen sollen — ohne Initiative, ohne Phantasie, ohne Ideale. Die verbreitete Redensart, »Wissen ist Macht«, 1) Goethe legt wiederholt grosses Gewicht auf diese Unterscheidung zwischen dem »ausser uns« und dem »in uns«; hier, um Entdeckung und Wissenschaft aus- einander zu halten, thut sie gute Dienste; doch sobald man sie auf das rein philo- sophische oder auch rein naturwissenschaftliche Gebiet überträgt, ist grosse Vorsicht am Platze, worüber Näheres am Anfang des Abschnittes »Wissenschaft«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 753. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/232>, abgerufen am 24.04.2024.