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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
ungefähr der gleiche, er führt zu ebenfalls gleich falschen Schlüssen.
Vermieden wird er, wenn man den ewig sprudelnden, ewig sich
gleichbleibenden Quell erhabenster Religiosität, die Erscheinung Christi,
von den Notbauten unterscheidet, welche die wechselnden religiösen
Bedürfnisse, die wechselnden geistigen Ansprüche der Menschen und
-- was noch weit entscheidender ist -- die grundverschiedenen
Gemütsanlagen ungleicher Menschenrassen als Gesetz und Tempel
für ihre Andacht errichteten.

Die christliche Religion nahm ihren Ursprung in einer sehr eigen-Das religiöse
Delirium.

tümlichen Zeit, unter Bedingungen so ungünstig wie nur denkbar für die
Errichtung eines einheitlichen, würdigen, festen Baues. Gerade in jener
Gegend, wo ihre Wiege stand, nämlich im westlichsten Asien, nörd-
lichsten Afrika und östlichsten Europa, hatte eine eigentümliche Durch-
dringung der verschiedenartigsten Superstitionen, Mythen, Mysterien
und Philosopheme stattgefunden, wobei alle an Eigenart und Wert --
wie nicht anders möglich -- eingebüsst hatten. Man vergegenwärtige
sich zunächst den damaligen politisch-sozialen Zustand jener Länder.
Was Alexander begonnen, hatte Rom in gründlicherer Weise voll-
endet: es herrschte in jenen Gegenden ein Internationalismus, von dem
wir uns heute schwer einen Begriff machen können. Die Bevölke-
rungen der massgebenden Städte am Mittelländischen Meere und in
Kleinasien entbehrten jeglicher Rasseneinheit: in Gruppen lebten Hellenen,
Syrier, Juden, Semiten, Armenier, Ägypter, Perser, römische Soldaten-
kolonien, Gallier u. s. w. u. s. w. durcheinander, von zahllosen halb-
schlächtigen Menschen umgeben, in deren Adern alle individuellen
Charaktere sich zur vollkommenen Charakterlosigkeit gemischt hatten.
Das Vaterlandsgefühl war gänzlich geschwunden, weil jeder Bedeutung
bar; gab es doch weder Nation, noch Rasse; Rom war für diese
Menschen etwa, was für unsern Pöbel die Polizei ist. Diesen Zustand
habe ich durch die Bezeichnung Völkerchaos zu charakterisieren
und in dem vierten Kapitel dieses Werkes anschaulich zu machen ver-
sucht. Durch dieses Chaos wurde nun ein zügelloser Austausch der
Ideen und Gebräuche vermittelt; eigene Sitte, eigene Art war hin,
fieberhaft suchte der Mensch in einem willkürlichen Durcheinander
fremder Sitten und fremder Lebensauffassungen Ersatz. Wirklichen
Glauben gab es fast gar nicht mehr. Selbst bei den Juden -- sonst
inmitten dieses Hexensabbats eine so rühmliche Ausnahme -- schwankte
er nicht unbedenklich in weitauseinandergehenden Sekten. Und doch,
noch niemals erlebte die Welt einen derartigen religiösen Taumel,

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Religion.
ungefähr der gleiche, er führt zu ebenfalls gleich falschen Schlüssen.
Vermieden wird er, wenn man den ewig sprudelnden, ewig sich
gleichbleibenden Quell erhabenster Religiosität, die Erscheinung Christi,
von den Notbauten unterscheidet, welche die wechselnden religiösen
Bedürfnisse, die wechselnden geistigen Ansprüche der Menschen und
— was noch weit entscheidender ist — die grundverschiedenen
Gemütsanlagen ungleicher Menschenrassen als Gesetz und Tempel
für ihre Andacht errichteten.

Die christliche Religion nahm ihren Ursprung in einer sehr eigen-Das religiöse
Delirium.

tümlichen Zeit, unter Bedingungen so ungünstig wie nur denkbar für die
Errichtung eines einheitlichen, würdigen, festen Baues. Gerade in jener
Gegend, wo ihre Wiege stand, nämlich im westlichsten Asien, nörd-
lichsten Afrika und östlichsten Europa, hatte eine eigentümliche Durch-
dringung der verschiedenartigsten Superstitionen, Mythen, Mysterien
und Philosopheme stattgefunden, wobei alle an Eigenart und Wert —
wie nicht anders möglich — eingebüsst hatten. Man vergegenwärtige
sich zunächst den damaligen politisch-sozialen Zustand jener Länder.
Was Alexander begonnen, hatte Rom in gründlicherer Weise voll-
endet: es herrschte in jenen Gegenden ein Internationalismus, von dem
wir uns heute schwer einen Begriff machen können. Die Bevölke-
rungen der massgebenden Städte am Mittelländischen Meere und in
Kleinasien entbehrten jeglicher Rasseneinheit: in Gruppen lebten Hellenen,
Syrier, Juden, Semiten, Armenier, Ägypter, Perser, römische Soldaten-
kolonien, Gallier u. s. w. u. s. w. durcheinander, von zahllosen halb-
schlächtigen Menschen umgeben, in deren Adern alle individuellen
Charaktere sich zur vollkommenen Charakterlosigkeit gemischt hatten.
Das Vaterlandsgefühl war gänzlich geschwunden, weil jeder Bedeutung
bar; gab es doch weder Nation, noch Rasse; Rom war für diese
Menschen etwa, was für unsern Pöbel die Polizei ist. Diesen Zustand
habe ich durch die Bezeichnung Völkerchaos zu charakterisieren
und in dem vierten Kapitel dieses Werkes anschaulich zu machen ver-
sucht. Durch dieses Chaos wurde nun ein zügelloser Austausch der
Ideen und Gebräuche vermittelt; eigene Sitte, eigene Art war hin,
fieberhaft suchte der Mensch in einem willkürlichen Durcheinander
fremder Sitten und fremder Lebensauffassungen Ersatz. Wirklichen
Glauben gab es fast gar nicht mehr. Selbst bei den Juden — sonst
inmitten dieses Hexensabbats eine so rühmliche Ausnahme — schwankte
er nicht unbedenklich in weitauseinandergehenden Sekten. Und doch,
noch niemals erlebte die Welt einen derartigen religiösen Taumel,

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[547/0026] Religion. ungefähr der gleiche, er führt zu ebenfalls gleich falschen Schlüssen. Vermieden wird er, wenn man den ewig sprudelnden, ewig sich gleichbleibenden Quell erhabenster Religiosität, die Erscheinung Christi, von den Notbauten unterscheidet, welche die wechselnden religiösen Bedürfnisse, die wechselnden geistigen Ansprüche der Menschen und — was noch weit entscheidender ist — die grundverschiedenen Gemütsanlagen ungleicher Menschenrassen als Gesetz und Tempel für ihre Andacht errichteten. Die christliche Religion nahm ihren Ursprung in einer sehr eigen- tümlichen Zeit, unter Bedingungen so ungünstig wie nur denkbar für die Errichtung eines einheitlichen, würdigen, festen Baues. Gerade in jener Gegend, wo ihre Wiege stand, nämlich im westlichsten Asien, nörd- lichsten Afrika und östlichsten Europa, hatte eine eigentümliche Durch- dringung der verschiedenartigsten Superstitionen, Mythen, Mysterien und Philosopheme stattgefunden, wobei alle an Eigenart und Wert — wie nicht anders möglich — eingebüsst hatten. Man vergegenwärtige sich zunächst den damaligen politisch-sozialen Zustand jener Länder. Was Alexander begonnen, hatte Rom in gründlicherer Weise voll- endet: es herrschte in jenen Gegenden ein Internationalismus, von dem wir uns heute schwer einen Begriff machen können. Die Bevölke- rungen der massgebenden Städte am Mittelländischen Meere und in Kleinasien entbehrten jeglicher Rasseneinheit: in Gruppen lebten Hellenen, Syrier, Juden, Semiten, Armenier, Ägypter, Perser, römische Soldaten- kolonien, Gallier u. s. w. u. s. w. durcheinander, von zahllosen halb- schlächtigen Menschen umgeben, in deren Adern alle individuellen Charaktere sich zur vollkommenen Charakterlosigkeit gemischt hatten. Das Vaterlandsgefühl war gänzlich geschwunden, weil jeder Bedeutung bar; gab es doch weder Nation, noch Rasse; Rom war für diese Menschen etwa, was für unsern Pöbel die Polizei ist. Diesen Zustand habe ich durch die Bezeichnung Völkerchaos zu charakterisieren und in dem vierten Kapitel dieses Werkes anschaulich zu machen ver- sucht. Durch dieses Chaos wurde nun ein zügelloser Austausch der Ideen und Gebräuche vermittelt; eigene Sitte, eigene Art war hin, fieberhaft suchte der Mensch in einem willkürlichen Durcheinander fremder Sitten und fremder Lebensauffassungen Ersatz. Wirklichen Glauben gab es fast gar nicht mehr. Selbst bei den Juden — sonst inmitten dieses Hexensabbats eine so rühmliche Ausnahme — schwankte er nicht unbedenklich in weitauseinandergehenden Sekten. Und doch, noch niemals erlebte die Welt einen derartigen religiösen Taumel, Das religiöse Delirium. 35*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/26>, abgerufen am 25.04.2024.