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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
tausend; sämtliche damals bekannte lateinische Autoren lagen noch vor
Ende des Jahrhunderts gedruckt vor; in weiteren zwanzig Jahren folgten
alle irgend zugänglichen griechischen Denker und Dichter.1) Doch
man verharrte nicht allein bei Vergangenem; sofort griff der Germane
die Erforschung der Natur an und zwar am rechten Ende, bei der
Mathematik: Johannes Müller aus Königsberg in Franken, genannt
Regiomontanus, begründete zwischen 1470 und 1475 eine besondere
Druckerei zur Herausgabe mathematischer Schriften in Nürnberg;2)
zahlreiche deutsche, französische und italienische Mathematiker wurden
dadurch zur Bearbeitung der Mechanik und Astronomie angeregt;
1525 gab der grosse Nürnberger Albrecht Dürer die erste darstellende
Geometrie in deutscher Sprache heraus, und im selben Nürnberg er-
schien bald darauf das De revolutionibus des Copernicus. Auch auf
den anderen Gebieten der Entdeckung war man inzwischen nicht
müssig gewesen und die erste Zeitung, die im Jahre 1505 erschien,
"bringt schon Nachrichten aus Brasilien".3)

Ich wüsste nichts, was so geeignet wäre wie diese Geschichte
des Papiers, uns die hohe Bedeutung vor Augen zu führen, welche
eine Industrie für alle Lebenszweige gewinnen kann; zugleich sehen
wir, wie alles darauf ankommt, in wessen Hände eine Erfindung gelangt.
Der Germane hat das Papier nicht erfunden; was aber bei Semiten und
Juden ein belangloser Wisch gewesen war, wurde, dank seinen unver-
gleichlichen und durchaus individuell eigenartigen Gaben, das Panier
einer neuen Welt. Man sieht, wie Recht Goethe hat, zu schreiben:
"Das erste und letzte am Menschen ist Thätigkeit, und man kann
nichts thun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der
uns dazu treibt -- -- -- Wenn man es genau betrachtet, wird jede,
auch nur die geringste Fähigkeit uns angeboren, und es giebt keine
unbestimmte Fähigkeit".4) Wer die Geschichte des Papiers kennt
und da noch von der Gleichartigkeit der Menschenrassen schwärmt,
dem ist nicht zu helfen.

Die Einführung des Papiers ist ohne jede Frage das folgen-
schwerste Ereignis unserer gesamten industriellen Geschichte. Alles
Übrige ist im Verhältnis von sehr geringer Bedeutung. Erst der zu
Beginn dieses Abschnittes genannte Umschwung in der Textilindustrie,

1) Green: History of the English people, III, 195.
2) Gerhardt: Geschichte der Mathematik in Deutschland, 1877, S. 15.
3) Lamprecht: Deutsche Geschichte, VI., 122.
4) Lehrjahre, 8. Buch, Kap. 3.

Die Entstehung einer neuen Welt.
tausend; sämtliche damals bekannte lateinische Autoren lagen noch vor
Ende des Jahrhunderts gedruckt vor; in weiteren zwanzig Jahren folgten
alle irgend zugänglichen griechischen Denker und Dichter.1) Doch
man verharrte nicht allein bei Vergangenem; sofort griff der Germane
die Erforschung der Natur an und zwar am rechten Ende, bei der
Mathematik: Johannes Müller aus Königsberg in Franken, genannt
Regiomontanus, begründete zwischen 1470 und 1475 eine besondere
Druckerei zur Herausgabe mathematischer Schriften in Nürnberg;2)
zahlreiche deutsche, französische und italienische Mathematiker wurden
dadurch zur Bearbeitung der Mechanik und Astronomie angeregt;
1525 gab der grosse Nürnberger Albrecht Dürer die erste darstellende
Geometrie in deutscher Sprache heraus, und im selben Nürnberg er-
schien bald darauf das De revolutionibus des Copernicus. Auch auf
den anderen Gebieten der Entdeckung war man inzwischen nicht
müssig gewesen und die erste Zeitung, die im Jahre 1505 erschien,
»bringt schon Nachrichten aus Brasilien«.3)

Ich wüsste nichts, was so geeignet wäre wie diese Geschichte
des Papiers, uns die hohe Bedeutung vor Augen zu führen, welche
eine Industrie für alle Lebenszweige gewinnen kann; zugleich sehen
wir, wie alles darauf ankommt, in wessen Hände eine Erfindung gelangt.
Der Germane hat das Papier nicht erfunden; was aber bei Semiten und
Juden ein belangloser Wisch gewesen war, wurde, dank seinen unver-
gleichlichen und durchaus individuell eigenartigen Gaben, das Panier
einer neuen Welt. Man sieht, wie Recht Goethe hat, zu schreiben:
»Das erste und letzte am Menschen ist Thätigkeit, und man kann
nichts thun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der
uns dazu treibt — — — Wenn man es genau betrachtet, wird jede,
auch nur die geringste Fähigkeit uns angeboren, und es giebt keine
unbestimmte Fähigkeit«.4) Wer die Geschichte des Papiers kennt
und da noch von der Gleichartigkeit der Menschenrassen schwärmt,
dem ist nicht zu helfen.

Die Einführung des Papiers ist ohne jede Frage das folgen-
schwerste Ereignis unserer gesamten industriellen Geschichte. Alles
Übrige ist im Verhältnis von sehr geringer Bedeutung. Erst der zu
Beginn dieses Abschnittes genannte Umschwung in der Textilindustrie,

1) Green: History of the English people, III, 195.
2) Gerhardt: Geschichte der Mathematik in Deutschland, 1877, S. 15.
3) Lamprecht: Deutsche Geschichte, VI., 122.
4) Lehrjahre, 8. Buch, Kap. 3.
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[820/0299] Die Entstehung einer neuen Welt. tausend; sämtliche damals bekannte lateinische Autoren lagen noch vor Ende des Jahrhunderts gedruckt vor; in weiteren zwanzig Jahren folgten alle irgend zugänglichen griechischen Denker und Dichter. 1) Doch man verharrte nicht allein bei Vergangenem; sofort griff der Germane die Erforschung der Natur an und zwar am rechten Ende, bei der Mathematik: Johannes Müller aus Königsberg in Franken, genannt Regiomontanus, begründete zwischen 1470 und 1475 eine besondere Druckerei zur Herausgabe mathematischer Schriften in Nürnberg; 2) zahlreiche deutsche, französische und italienische Mathematiker wurden dadurch zur Bearbeitung der Mechanik und Astronomie angeregt; 1525 gab der grosse Nürnberger Albrecht Dürer die erste darstellende Geometrie in deutscher Sprache heraus, und im selben Nürnberg er- schien bald darauf das De revolutionibus des Copernicus. Auch auf den anderen Gebieten der Entdeckung war man inzwischen nicht müssig gewesen und die erste Zeitung, die im Jahre 1505 erschien, »bringt schon Nachrichten aus Brasilien«. 3) Ich wüsste nichts, was so geeignet wäre wie diese Geschichte des Papiers, uns die hohe Bedeutung vor Augen zu führen, welche eine Industrie für alle Lebenszweige gewinnen kann; zugleich sehen wir, wie alles darauf ankommt, in wessen Hände eine Erfindung gelangt. Der Germane hat das Papier nicht erfunden; was aber bei Semiten und Juden ein belangloser Wisch gewesen war, wurde, dank seinen unver- gleichlichen und durchaus individuell eigenartigen Gaben, das Panier einer neuen Welt. Man sieht, wie Recht Goethe hat, zu schreiben: »Das erste und letzte am Menschen ist Thätigkeit, und man kann nichts thun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der uns dazu treibt — — — Wenn man es genau betrachtet, wird jede, auch nur die geringste Fähigkeit uns angeboren, und es giebt keine unbestimmte Fähigkeit«. 4) Wer die Geschichte des Papiers kennt und da noch von der Gleichartigkeit der Menschenrassen schwärmt, dem ist nicht zu helfen. Die Einführung des Papiers ist ohne jede Frage das folgen- schwerste Ereignis unserer gesamten industriellen Geschichte. Alles Übrige ist im Verhältnis von sehr geringer Bedeutung. Erst der zu Beginn dieses Abschnittes genannte Umschwung in der Textilindustrie, 1) Green: History of the English people, III, 195. 2) Gerhardt: Geschichte der Mathematik in Deutschland, 1877, S. 15. 3) Lamprecht: Deutsche Geschichte, VI., 122. 4) Lehrjahre, 8. Buch, Kap. 3.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 820. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/299>, abgerufen am 25.04.2024.