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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
stand. An ein wirkliches Verständnis der Worte Christi war damals
nicht zu denken. Doch als nun von ihm in jene chaotische, verratene
Menschheit die Anregung zu religiöser Erhebung hineingetragen worden
war, wie hätte man für diese armseligen Menschen einen Tempel
bauen können, ohne Zugrundelegung der jüdischen Chronik und
der jüdischen Anlage, alles konkret-geschichtlich aufzufassen? Diesen
Sklavenseelen, die keinen Halt in sich selbst und in dem sie umgeben-
den Leben einer echten Nation fanden, war einzig mit etwas durch-
aus Greifbarem, Materiellem, dogmatisch Sicherem gedient; sie brauchten
ein religiöses Gesetz an Stelle philosophischer Betrachtungen über
Pflicht und Tugend; daher waren ja schon viele zum Judentum über-
getreten. Allein das Judentum -- als Willensmacht unschätzbar --
besitzt nur eine sehr geringe, beschränkt-semitische Gestaltungsfähigkeit;
der Baumeister musste also von anderwärts geholt werden. Ohne die
Formenfülle und Gestaltungskraft des hellenischen Geistes -- sagen wir
einfach, ohne Homer, Plato und Aristoteles, und im weiteren Hinter-
grunde ohne Persien und Indien -- hätte das äussere kosmogonisch-
mythologische Gebäude der christlichen Kirche niemals der Tempel eines
weltumspannenden Bekenntnisses werden können. Die frühen Kirchen-
lehrer knüpfen sämtlich bei Plato an, die späteren ausserdem bei Ari-
stoteles. Über die umfassende litterarische, poetische und philosophische
Bildung der ältesten Väter, nämlich der griechischen, kann man sich
in Kirchengeschichten unterrichten, und man wird dadurch den Wert
dieses Bildungseinflusses für die grundlegenden Dogmen des Christen-
tums hochschätzen lernen. Farbe und Leben konnte die indoeuro-
päische Mythologie freilich unter so fremden Auspicien nicht erhalten,
erst viel später half hier, soweit es ging, die christliche Kunst nach;
jedoch, dank dem Einflusse des hellenischen Auges, erhielt diese
Mythologie wenigstens eine geometrische und insoferne sichtbare Ge-
staltung: die uralte arische Vorstellung von der Dreieinigkeit gab den
kunstvoll aufgeführten kosmischen Tempel ab, in welchem der durchaus
neuen Religion Altäre errichtet wurden.

Über die Natur dieser beiden wichtigsten konstruktiven Elemente
der christlichen Religion müssen wir nun durchaus Klarheit besitzen,
sonst giebt es kein Verständnis des unendlich verwickelten Kampfes,
der vom ersten Jahrhundert unserer Ära an bis zum heutigen Tage
-- namentlich aber während der ersten Säculi -- über die Glaubens-
sätze dieser Religion tobte. Von den verschiedenen führenden Geistern
werden die widersprechenden Auffassungen und Lehren und Instinkte

Der Kampf.
stand. An ein wirkliches Verständnis der Worte Christi war damals
nicht zu denken. Doch als nun von ihm in jene chaotische, verratene
Menschheit die Anregung zu religiöser Erhebung hineingetragen worden
war, wie hätte man für diese armseligen Menschen einen Tempel
bauen können, ohne Zugrundelegung der jüdischen Chronik und
der jüdischen Anlage, alles konkret-geschichtlich aufzufassen? Diesen
Sklavenseelen, die keinen Halt in sich selbst und in dem sie umgeben-
den Leben einer echten Nation fanden, war einzig mit etwas durch-
aus Greifbarem, Materiellem, dogmatisch Sicherem gedient; sie brauchten
ein religiöses Gesetz an Stelle philosophischer Betrachtungen über
Pflicht und Tugend; daher waren ja schon viele zum Judentum über-
getreten. Allein das Judentum — als Willensmacht unschätzbar —
besitzt nur eine sehr geringe, beschränkt-semitische Gestaltungsfähigkeit;
der Baumeister musste also von anderwärts geholt werden. Ohne die
Formenfülle und Gestaltungskraft des hellenischen Geistes — sagen wir
einfach, ohne Homer, Plato und Aristoteles, und im weiteren Hinter-
grunde ohne Persien und Indien — hätte das äussere kosmogonisch-
mythologische Gebäude der christlichen Kirche niemals der Tempel eines
weltumspannenden Bekenntnisses werden können. Die frühen Kirchen-
lehrer knüpfen sämtlich bei Plato an, die späteren ausserdem bei Ari-
stoteles. Über die umfassende litterarische, poetische und philosophische
Bildung der ältesten Väter, nämlich der griechischen, kann man sich
in Kirchengeschichten unterrichten, und man wird dadurch den Wert
dieses Bildungseinflusses für die grundlegenden Dogmen des Christen-
tums hochschätzen lernen. Farbe und Leben konnte die indoeuro-
päische Mythologie freilich unter so fremden Auspicien nicht erhalten,
erst viel später half hier, soweit es ging, die christliche Kunst nach;
jedoch, dank dem Einflusse des hellenischen Auges, erhielt diese
Mythologie wenigstens eine geometrische und insoferne sichtbare Ge-
staltung: die uralte arische Vorstellung von der Dreieinigkeit gab den
kunstvoll aufgeführten kosmischen Tempel ab, in welchem der durchaus
neuen Religion Altäre errichtet wurden.

Über die Natur dieser beiden wichtigsten konstruktiven Elemente
der christlichen Religion müssen wir nun durchaus Klarheit besitzen,
sonst giebt es kein Verständnis des unendlich verwickelten Kampfes,
der vom ersten Jahrhundert unserer Ära an bis zum heutigen Tage
— namentlich aber während der ersten Säculi — über die Glaubens-
sätze dieser Religion tobte. Von den verschiedenen führenden Geistern
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[552/0031] Der Kampf. stand. An ein wirkliches Verständnis der Worte Christi war damals nicht zu denken. Doch als nun von ihm in jene chaotische, verratene Menschheit die Anregung zu religiöser Erhebung hineingetragen worden war, wie hätte man für diese armseligen Menschen einen Tempel bauen können, ohne Zugrundelegung der jüdischen Chronik und der jüdischen Anlage, alles konkret-geschichtlich aufzufassen? Diesen Sklavenseelen, die keinen Halt in sich selbst und in dem sie umgeben- den Leben einer echten Nation fanden, war einzig mit etwas durch- aus Greifbarem, Materiellem, dogmatisch Sicherem gedient; sie brauchten ein religiöses Gesetz an Stelle philosophischer Betrachtungen über Pflicht und Tugend; daher waren ja schon viele zum Judentum über- getreten. Allein das Judentum — als Willensmacht unschätzbar — besitzt nur eine sehr geringe, beschränkt-semitische Gestaltungsfähigkeit; der Baumeister musste also von anderwärts geholt werden. Ohne die Formenfülle und Gestaltungskraft des hellenischen Geistes — sagen wir einfach, ohne Homer, Plato und Aristoteles, und im weiteren Hinter- grunde ohne Persien und Indien — hätte das äussere kosmogonisch- mythologische Gebäude der christlichen Kirche niemals der Tempel eines weltumspannenden Bekenntnisses werden können. Die frühen Kirchen- lehrer knüpfen sämtlich bei Plato an, die späteren ausserdem bei Ari- stoteles. Über die umfassende litterarische, poetische und philosophische Bildung der ältesten Väter, nämlich der griechischen, kann man sich in Kirchengeschichten unterrichten, und man wird dadurch den Wert dieses Bildungseinflusses für die grundlegenden Dogmen des Christen- tums hochschätzen lernen. Farbe und Leben konnte die indoeuro- päische Mythologie freilich unter so fremden Auspicien nicht erhalten, erst viel später half hier, soweit es ging, die christliche Kunst nach; jedoch, dank dem Einflusse des hellenischen Auges, erhielt diese Mythologie wenigstens eine geometrische und insoferne sichtbare Ge- staltung: die uralte arische Vorstellung von der Dreieinigkeit gab den kunstvoll aufgeführten kosmischen Tempel ab, in welchem der durchaus neuen Religion Altäre errichtet wurden. Über die Natur dieser beiden wichtigsten konstruktiven Elemente der christlichen Religion müssen wir nun durchaus Klarheit besitzen, sonst giebt es kein Verständnis des unendlich verwickelten Kampfes, der vom ersten Jahrhundert unserer Ära an bis zum heutigen Tage — namentlich aber während der ersten Säculi — über die Glaubens- sätze dieser Religion tobte. Von den verschiedenen führenden Geistern werden die widersprechenden Auffassungen und Lehren und Instinkte

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/31>, abgerufen am 29.03.2024.