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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Politik und Kirche.
der Gegenwart auf, von Constantin Pobedonoszew. Dieser bekannte
russische Staatsminister und Oberprocureur des heiligen Synods kann
als vollendeter Typus eines Reaktionärs gelten; ein freidenkender Mann
wird nicht häufig in der Lage sein, in politischen Dingen mit ihm
übereinzustimmen; ausserdem ist er ein orthodox kirchlicher Christ.
Er meint nun, die Kirche könne vom Staate nicht getrennt werden,
nicht auf die Dauer wenigstens, und zwar weil sie dann unfehlbar
"bald das Übergewicht über den Staat gewinnen" und zu einem Um-
sturz im theokratischen Sinne führen würde! Diese Behauptung seitens
eines Mannes, der in kirchliche Dinge so genau eingeweiht ist, und
der Kirche die grösste Sympathie entgegenbringt, scheint mir höchst
beachtenswert. Er fürchtet ebenfalls, dass sobald der Staat die In-
differenz gegen die Kirche als Prinzip einführt, "der Priester sich in die
Familie hineindrängen wird, an die Stelle des Vaters."1) Pobedonoszew
schreibt also der Kirche eine so enorme politische Bedeutung zu, dass
er als erfahrener Staatsmann für den Staat, und als gläubiger Christ
für die Religion fürchtet, sobald man ihr die Zügel schiessen liesse.
Dies mag manchem Liberalen zu denken geben! Mir dient es einst-
weilen als Rechtfertigung meines Standpunktes, wenn ich auch von
ganz anderen Voraussetzungen ausgehe und auf ganz andere Ziele hin-
steuere als der Ratgeber des Autokraten aller Reussen.

Ich beabsichtige nämlich, da dieser Abschnitt wie die übrigen
notgedrungen sehr kurz gehalten sein muss, mein Augenmerk fast
lediglich auf die Rolle der Kirche in der Politik der letzten sechs-
hundert Jahre zu richten, denn gerade hiermit glaube ich dasjenige zu
treffen, was als verhängnisvolles Erbe früherer Zeiten noch heute lebt.
Schon Gesagtes braucht nicht wiederholt zu werden, und ebenso über-
flüssig wäre es, das, was Jeder seit der Schule weiss, hier noch einmal
zusammenzufassen.2) Hier dagegen winkt uns Neues und der Lohn
eines tiefen Einblickes in die innerste Werkstatt weltgestaltender Politik.
Sonst ist ja Politik meist nur ein Anpassen, ein Anbequemen, das
Gestern hat für das Heute wenig Interesse; hier aber erblicken wir
die bleibenden Motive, und lernen einsehen, warum nur bestimmte
Anpassungen glückten, nicht andere.

1) Deutsche Übersetzung von Borchardt und Kelchner, 3. Aufl., S. 10 fg., 24 fg.
2) Siehe im vorigen Abschnitt, S. 827, die Andeutung über den monarchischen
Absolutismus als ein Mittel zur Erlangung der nationalen Unabhängigkeit und zur
Wiedereroberung der Freiheit; ausserdem die Bemerkungen S. 809 fg. und das ganze
achte Kapitel.

Politik und Kirche.
der Gegenwart auf, von Constantin Pobedonoszew. Dieser bekannte
russische Staatsminister und Oberprocureur des heiligen Synods kann
als vollendeter Typus eines Reaktionärs gelten; ein freidenkender Mann
wird nicht häufig in der Lage sein, in politischen Dingen mit ihm
übereinzustimmen; ausserdem ist er ein orthodox kirchlicher Christ.
Er meint nun, die Kirche könne vom Staate nicht getrennt werden,
nicht auf die Dauer wenigstens, und zwar weil sie dann unfehlbar
»bald das Übergewicht über den Staat gewinnen« und zu einem Um-
sturz im theokratischen Sinne führen würde! Diese Behauptung seitens
eines Mannes, der in kirchliche Dinge so genau eingeweiht ist, und
der Kirche die grösste Sympathie entgegenbringt, scheint mir höchst
beachtenswert. Er fürchtet ebenfalls, dass sobald der Staat die In-
differenz gegen die Kirche als Prinzip einführt, »der Priester sich in die
Familie hineindrängen wird, an die Stelle des Vaters.«1) Pobedonoszew
schreibt also der Kirche eine so enorme politische Bedeutung zu, dass
er als erfahrener Staatsmann für den Staat, und als gläubiger Christ
für die Religion fürchtet, sobald man ihr die Zügel schiessen liesse.
Dies mag manchem Liberalen zu denken geben! Mir dient es einst-
weilen als Rechtfertigung meines Standpunktes, wenn ich auch von
ganz anderen Voraussetzungen ausgehe und auf ganz andere Ziele hin-
steuere als der Ratgeber des Autokraten aller Reussen.

Ich beabsichtige nämlich, da dieser Abschnitt wie die übrigen
notgedrungen sehr kurz gehalten sein muss, mein Augenmerk fast
lediglich auf die Rolle der Kirche in der Politik der letzten sechs-
hundert Jahre zu richten, denn gerade hiermit glaube ich dasjenige zu
treffen, was als verhängnisvolles Erbe früherer Zeiten noch heute lebt.
Schon Gesagtes braucht nicht wiederholt zu werden, und ebenso über-
flüssig wäre es, das, was Jeder seit der Schule weiss, hier noch einmal
zusammenzufassen.2) Hier dagegen winkt uns Neues und der Lohn
eines tiefen Einblickes in die innerste Werkstatt weltgestaltender Politik.
Sonst ist ja Politik meist nur ein Anpassen, ein Anbequemen, das
Gestern hat für das Heute wenig Interesse; hier aber erblicken wir
die bleibenden Motive, und lernen einsehen, warum nur bestimmte
Anpassungen glückten, nicht andere.

1) Deutsche Übersetzung von Borchardt und Kelchner, 3. Aufl., S. 10 fg., 24 fg.
2) Siehe im vorigen Abschnitt, S. 827, die Andeutung über den monarchischen
Absolutismus als ein Mittel zur Erlangung der nationalen Unabhängigkeit und zur
Wiedereroberung der Freiheit; ausserdem die Bemerkungen S. 809 fg. und das ganze
achte Kapitel.
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[839/0318] Politik und Kirche. der Gegenwart auf, von Constantin Pobedonoszew. Dieser bekannte russische Staatsminister und Oberprocureur des heiligen Synods kann als vollendeter Typus eines Reaktionärs gelten; ein freidenkender Mann wird nicht häufig in der Lage sein, in politischen Dingen mit ihm übereinzustimmen; ausserdem ist er ein orthodox kirchlicher Christ. Er meint nun, die Kirche könne vom Staate nicht getrennt werden, nicht auf die Dauer wenigstens, und zwar weil sie dann unfehlbar »bald das Übergewicht über den Staat gewinnen« und zu einem Um- sturz im theokratischen Sinne führen würde! Diese Behauptung seitens eines Mannes, der in kirchliche Dinge so genau eingeweiht ist, und der Kirche die grösste Sympathie entgegenbringt, scheint mir höchst beachtenswert. Er fürchtet ebenfalls, dass sobald der Staat die In- differenz gegen die Kirche als Prinzip einführt, »der Priester sich in die Familie hineindrängen wird, an die Stelle des Vaters.« 1) Pobedonoszew schreibt also der Kirche eine so enorme politische Bedeutung zu, dass er als erfahrener Staatsmann für den Staat, und als gläubiger Christ für die Religion fürchtet, sobald man ihr die Zügel schiessen liesse. Dies mag manchem Liberalen zu denken geben! Mir dient es einst- weilen als Rechtfertigung meines Standpunktes, wenn ich auch von ganz anderen Voraussetzungen ausgehe und auf ganz andere Ziele hin- steuere als der Ratgeber des Autokraten aller Reussen. Ich beabsichtige nämlich, da dieser Abschnitt wie die übrigen notgedrungen sehr kurz gehalten sein muss, mein Augenmerk fast lediglich auf die Rolle der Kirche in der Politik der letzten sechs- hundert Jahre zu richten, denn gerade hiermit glaube ich dasjenige zu treffen, was als verhängnisvolles Erbe früherer Zeiten noch heute lebt. Schon Gesagtes braucht nicht wiederholt zu werden, und ebenso über- flüssig wäre es, das, was Jeder seit der Schule weiss, hier noch einmal zusammenzufassen. 2) Hier dagegen winkt uns Neues und der Lohn eines tiefen Einblickes in die innerste Werkstatt weltgestaltender Politik. Sonst ist ja Politik meist nur ein Anpassen, ein Anbequemen, das Gestern hat für das Heute wenig Interesse; hier aber erblicken wir die bleibenden Motive, und lernen einsehen, warum nur bestimmte Anpassungen glückten, nicht andere. 1) Deutsche Übersetzung von Borchardt und Kelchner, 3. Aufl., S. 10 fg., 24 fg. 2) Siehe im vorigen Abschnitt, S. 827, die Andeutung über den monarchischen Absolutismus als ein Mittel zur Erlangung der nationalen Unabhängigkeit und zur Wiedereroberung der Freiheit; ausserdem die Bemerkungen S. 809 fg. und das ganze achte Kapitel.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 839. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/318>, abgerufen am 16.04.2024.