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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
dass unsere germanische Weltanschauung nicht eine individuelle Grille
ist, sondern das notwendige Ergebnis der kräftigen Entfaltung unserer
Stammesanlagen; nie wird ein einzelnes Individuum, und sei es noch
so bedeutend, ein derartiges Gesamtwerk nach allen Seiten hin er-
schöpfen, nie wird eine solche anonyme, mit Naturnotwendigkeit
wirkende. Kraft in einer einzigen Persönlichkeit so vollendet allseitige
Verkörperung finden, dass nunmehr ein Jeder in diesem einen Manne
einen Paragon und Propheten anerkenne. Dieser Gedanke ist semitisch,
nicht germanisch; für unser Gefühl widerspricht er sich selber, denn
er setzt voraus, dass die Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz, im
Genie, unpersönlich werde. Wer wahre Ehrfurcht vor hervorragender
geistiger Grösse empfindet, wird nie ein Parteigänger sein; er lebt ja
in der hohen Schule der Unabhängigkeit. Eine so kolossale Lebens-
arbeit wie die Kant's, "die herkulische Arbeit des Selbsterkenntnisses",
wie er sie selber nennt, erforderte besondere Anlagen und nötigte zur
Specialisation. Doch, was liegt daran? Der Mann muss wirklich im
Besitze eines aussergewöhnlich polyedrischen Geistes sein, dem Kant's
Begabung "einseitig" vorkommt.1) Goethe meinte, ihm sei beim Lesen
von Kant zu Mute, als träte er in ein helles Zimmer ein; aus diesem
Munde wahrlich ein gewichtiges Lob! Die seltene Leuchtkraft ist eine
Folge der seltenen Intensität dieses Denkens. In diesem starken Lichte
Kant's wandelnd, ist es für uns Geisteszwerge kein Kunststück, die
Grenze des noch unaufbeleuchteten Schattens zu gewahren: doch ohne
den einen unvergleichlichen Mann hielten wir noch heute den Schatten

1) Gegen einen heute durch die Schriften Schopenhauer's weitverbreiteten
Vorwurf einer besonders widerwärtigen Einseitigkeit, möchte ich Kant hier in
Schutz nehmen. Schopenhauer behauptet nämlich (Grundlage der Moral § 6),
Kant hätte das Mitleid geradezu verpönt und stützt sich dabei auf Stellen, die
entschieden nach Kant's Absicht eine ganz andere Auslegung erfordern, da sie
lediglich gegen verderbliche Gefühlsduselei gerichtet sind. Kant mag vielleicht das
von J. J. Rousseau -- und in Anlehnung an diesen von Schopenhauer -- so stark
betonte Prinzip des Mitleides unterschätzt haben, ganz verkannt hat er es keines-
falls. Der Prüfstein ist hier das Verhalten zu den Tieren. Und da lesen wir in
der Tugendlehre § 17, dass Gewaltsamkeit und Grausamkeit gegen Tiere, "der
Pflicht des Menschen gegen sich selbst inniglich entgegengesetzt sei, denn dadurch
werde das Mitgefühl an dem Leiden der Tiere im Menschen abgestumpft". Dieser
Standpunkt des Mitleids mit dem Tier als Pflicht gegen sich selbst, sowie der an
gleicher Stelle eingeschärften "Dankbarkeit" gegen die tierischen Hausgenossen,
dünkt mich ein sehr hoher zu sein. Über die Vivisektion urteilt der angeblich
"lieblose, gleichgültige" und jedenfalls streng wissenschaftliche Mann: "die marter-
vollen physischen Versuche zum blossen Behuf der Spekulation sind zu verabscheuen".

Weltanschauung und Religion.
dass unsere germanische Weltanschauung nicht eine individuelle Grille
ist, sondern das notwendige Ergebnis der kräftigen Entfaltung unserer
Stammesanlagen; nie wird ein einzelnes Individuum, und sei es noch
so bedeutend, ein derartiges Gesamtwerk nach allen Seiten hin er-
schöpfen, nie wird eine solche anonyme, mit Naturnotwendigkeit
wirkende. Kraft in einer einzigen Persönlichkeit so vollendet allseitige
Verkörperung finden, dass nunmehr ein Jeder in diesem einen Manne
einen Paragon und Propheten anerkenne. Dieser Gedanke ist semitisch,
nicht germanisch; für unser Gefühl widerspricht er sich selber, denn
er setzt voraus, dass die Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz, im
Genie, unpersönlich werde. Wer wahre Ehrfurcht vor hervorragender
geistiger Grösse empfindet, wird nie ein Parteigänger sein; er lebt ja
in der hohen Schule der Unabhängigkeit. Eine so kolossale Lebens-
arbeit wie die Kant’s, »die herkulische Arbeit des Selbsterkenntnisses«,
wie er sie selber nennt, erforderte besondere Anlagen und nötigte zur
Specialisation. Doch, was liegt daran? Der Mann muss wirklich im
Besitze eines aussergewöhnlich polyedrischen Geistes sein, dem Kant’s
Begabung »einseitig« vorkommt.1) Goethe meinte, ihm sei beim Lesen
von Kant zu Mute, als träte er in ein helles Zimmer ein; aus diesem
Munde wahrlich ein gewichtiges Lob! Die seltene Leuchtkraft ist eine
Folge der seltenen Intensität dieses Denkens. In diesem starken Lichte
Kant’s wandelnd, ist es für uns Geisteszwerge kein Kunststück, die
Grenze des noch unaufbeleuchteten Schattens zu gewahren: doch ohne
den einen unvergleichlichen Mann hielten wir noch heute den Schatten

1) Gegen einen heute durch die Schriften Schopenhauer’s weitverbreiteten
Vorwurf einer besonders widerwärtigen Einseitigkeit, möchte ich Kant hier in
Schutz nehmen. Schopenhauer behauptet nämlich (Grundlage der Moral § 6),
Kant hätte das Mitleid geradezu verpönt und stützt sich dabei auf Stellen, die
entschieden nach Kant’s Absicht eine ganz andere Auslegung erfordern, da sie
lediglich gegen verderbliche Gefühlsduselei gerichtet sind. Kant mag vielleicht das
von J. J. Rousseau — und in Anlehnung an diesen von Schopenhauer — so stark
betonte Prinzip des Mitleides unterschätzt haben, ganz verkannt hat er es keines-
falls. Der Prüfstein ist hier das Verhalten zu den Tieren. Und da lesen wir in
der Tugendlehre § 17, dass Gewaltsamkeit und Grausamkeit gegen Tiere, »der
Pflicht des Menschen gegen sich selbst inniglich entgegengesetzt sei, denn dadurch
werde das Mitgefühl an dem Leiden der Tiere im Menschen abgestumpft«. Dieser
Standpunkt des Mitleids mit dem Tier als Pflicht gegen sich selbst, sowie der an
gleicher Stelle eingeschärften »Dankbarkeit« gegen die tierischen Hausgenossen,
dünkt mich ein sehr hoher zu sein. Über die Vivisektion urteilt der angeblich
»lieblose, gleichgültige« und jedenfalls streng wissenschaftliche Mann: »die marter-
vollen physischen Versuche zum blossen Behuf der Spekulation sind zu verabscheuen«.
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[945/0424] Weltanschauung und Religion. dass unsere germanische Weltanschauung nicht eine individuelle Grille ist, sondern das notwendige Ergebnis der kräftigen Entfaltung unserer Stammesanlagen; nie wird ein einzelnes Individuum, und sei es noch so bedeutend, ein derartiges Gesamtwerk nach allen Seiten hin er- schöpfen, nie wird eine solche anonyme, mit Naturnotwendigkeit wirkende. Kraft in einer einzigen Persönlichkeit so vollendet allseitige Verkörperung finden, dass nunmehr ein Jeder in diesem einen Manne einen Paragon und Propheten anerkenne. Dieser Gedanke ist semitisch, nicht germanisch; für unser Gefühl widerspricht er sich selber, denn er setzt voraus, dass die Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz, im Genie, unpersönlich werde. Wer wahre Ehrfurcht vor hervorragender geistiger Grösse empfindet, wird nie ein Parteigänger sein; er lebt ja in der hohen Schule der Unabhängigkeit. Eine so kolossale Lebens- arbeit wie die Kant’s, »die herkulische Arbeit des Selbsterkenntnisses«, wie er sie selber nennt, erforderte besondere Anlagen und nötigte zur Specialisation. Doch, was liegt daran? Der Mann muss wirklich im Besitze eines aussergewöhnlich polyedrischen Geistes sein, dem Kant’s Begabung »einseitig« vorkommt. 1) Goethe meinte, ihm sei beim Lesen von Kant zu Mute, als träte er in ein helles Zimmer ein; aus diesem Munde wahrlich ein gewichtiges Lob! Die seltene Leuchtkraft ist eine Folge der seltenen Intensität dieses Denkens. In diesem starken Lichte Kant’s wandelnd, ist es für uns Geisteszwerge kein Kunststück, die Grenze des noch unaufbeleuchteten Schattens zu gewahren: doch ohne den einen unvergleichlichen Mann hielten wir noch heute den Schatten 1) Gegen einen heute durch die Schriften Schopenhauer’s weitverbreiteten Vorwurf einer besonders widerwärtigen Einseitigkeit, möchte ich Kant hier in Schutz nehmen. Schopenhauer behauptet nämlich (Grundlage der Moral § 6), Kant hätte das Mitleid geradezu verpönt und stützt sich dabei auf Stellen, die entschieden nach Kant’s Absicht eine ganz andere Auslegung erfordern, da sie lediglich gegen verderbliche Gefühlsduselei gerichtet sind. Kant mag vielleicht das von J. J. Rousseau — und in Anlehnung an diesen von Schopenhauer — so stark betonte Prinzip des Mitleides unterschätzt haben, ganz verkannt hat er es keines- falls. Der Prüfstein ist hier das Verhalten zu den Tieren. Und da lesen wir in der Tugendlehre § 17, dass Gewaltsamkeit und Grausamkeit gegen Tiere, »der Pflicht des Menschen gegen sich selbst inniglich entgegengesetzt sei, denn dadurch werde das Mitgefühl an dem Leiden der Tiere im Menschen abgestumpft«. Dieser Standpunkt des Mitleids mit dem Tier als Pflicht gegen sich selbst, sowie der an gleicher Stelle eingeschärften »Dankbarkeit« gegen die tierischen Hausgenossen, dünkt mich ein sehr hoher zu sein. Über die Vivisektion urteilt der angeblich »lieblose, gleichgültige« und jedenfalls streng wissenschaftliche Mann: »die marter- vollen physischen Versuche zum blossen Behuf der Spekulation sind zu verabscheuen«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 945. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/424>, abgerufen am 25.04.2024.