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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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ist ästhetisch, d. h. es hat seinen Bestimmungsgrund in der Beziehung pdi_325.003
der Objecte zu den Gefühlen der Lust und Unlust,1) pdi_325.004
jedoch ohne dass eine Beziehung zum Begehrungsvermögen hinzuträte; pdi_325.005
"die blosse Vorstellung des Gegenstandes in mir ist von pdi_325.006
Wohlgefallen begleitet, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung pdi_325.007
der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag"; pdi_325.008
"das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurtheil bestimmt, ist pdi_325.009
ohne alles Interesse",2) im Gegensatz zu dem Wohlgefallen am pdi_325.010
Angenehmen oder Guten; das Geschmacksurtheil ist bloss contemplativ. pdi_325.011
"Geschmack ist das Beurtheilungsvermögen eines pdi_325.012
Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen pdi_325.013
oder Missfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines pdi_325.014
solchen Wohlgefallens heisst schön".3) Und da es keinen Uebergang pdi_325.015
in Begriffen zu Lust oder Unlust giebt, so tritt als weitere pdi_325.016
Bestimmung hinzu, dass das ästhetische Wohlgefallen nicht pdi_325.017
durch Vermittlung von Begriffen entsteht. So hebt die Kant'sche pdi_325.018
Analyse in der Wurzel die Betrachtung auf, nach welcher das pdi_325.019
Schöne das Wahre oder ein Inbegriff von Vorstellungen vollkommener pdi_325.020
Art in sinnlicher Einkleidung wäre und rückt die pdi_325.021
Bedeutung der Gefühle für die ästhetischen Vorgänge in den pdi_325.022
Mittelpunkt. Dieser zweite Satz unserer Aesthetik ist besonders pdi_325.023
glänzend von Schopenhauer dargestellt worden. Die Aufgabe pdi_325.024
ist, Ergänzung und tiefere Begründung hinzuzufügen, indem die pdi_325.025
Bedeutung der Gefühle für die Vorgänge des Schaffens, der pdi_325.026
Metamorphose der Bilder, der Composition erforscht wird. Dann pdi_325.027
erst erhält dieser sicherste Theil der bisherigen ästhetischen pdi_325.028
Grundlegung die erforderliche Verallgemeinerung und psychologische pdi_325.029
Begründung.

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Ein dritter Satz der deutschen Aesthetik liegt in der pdi_325.031
Linie, welche von dem Schiller'schen Gesetz rückwärts zu den Bedingungen pdi_325.032
geht, denen die äussere Wirklichkeit entsprechen

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Kant, Kritik der Urtheilskraft I § 1.
2) pdi_325.034
Vergl. § 2.
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Vergl. § 5 Ende.

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auf dieses letztere ausgedehnt werden. Das Geschmacksurtheil pdi_325.002
ist ästhetisch, d. h. es hat seinen Bestimmungsgrund in der Beziehung pdi_325.003
der Objecte zu den Gefühlen der Lust und Unlust,1) pdi_325.004
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Schöne das Wahre oder ein Inbegriff von Vorstellungen vollkommener pdi_325.020
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Linie, welche von dem Schiller'schen Gesetz rückwärts zu den Bedingungen pdi_325.032
geht, denen die äussere Wirklichkeit entsprechen

1) pdi_325.033
Kant, Kritik der Urtheilskraft I § 1.
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/27>, abgerufen am 18.04.2024.