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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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welchen Verhältnissen die Elemente des Styls innerhalb eines Individuums pdi_332.003
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und höheren Kritik eine systematische Grundlage der Untersuchung pdi_332.005
geschaffen. - Nahe verwandt ist dann die Hermeneutik; pdi_332.006
aber diese ist zwar von Schleiermacher auf den Standpunkt pdi_332.007
ästhetischer Formbetrachtung erhoben worden, jedoch pdi_332.008
seitdem hat sie diesen Standpunkt so wenig überschritten als pdi_332.009
die Poetik.

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Dagegen sind Grammatik und Metrik Grundlagen der pdi_332.011
Poetik und Vorbilder für eine vergleichende Behandlungsweise pdi_332.012
derselben, welche zunächst einzelne Causalverhältnisse in ihrer pdi_332.013
Gleichförmigkeit feststellt und sich so allmählig einer durchgreifenden pdi_332.014
Erkenntniss des ursächlichen Zusammenhangs annähert.

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Zeit zwischen den Methoden der Grammatik und denen der pdi_332.017
Poetik stattfinden muss. Der Grammatiker hat innerhalb der pdi_332.018
Lautlehre sehr elementare Veränderungen vor sich, und er vermag pdi_332.019
Reihen derselben innerhalb der verschiedenen Sprachen pdi_332.020
herzustellen und miteinander zu vergleichen. Er kann das genealogische pdi_332.021
Verhältniss zwischen den Sprachen zu Hilfe nehmen. pdi_332.022
Er kann die physiologischen Bedingungen für die Gleichförmigkeiten pdi_332.023
dieser elementaren lautlichen Veränderungen erkennen. pdi_332.024
Die Poetik kann nicht eine genealogische Gliederung der dichterischen pdi_332.025
Schulen benutzen. Sie vermag auch nicht die Veränderungen, pdi_332.026
die mit einem Typus oder einem Motiv vor sich pdi_332.027
gehen, in feste Reihen zu bringen. Die physiologische Seite des pdi_332.028
dichterischen Vorganges ist nicht in derselben Weise für die pdi_332.029
elementare Begründung der Poetik zu benutzen, als die des pdi_332.030
Sprachvorgangs es für die der Grammatik ist. Wohl durchdringt pdi_332.031
der Wechsel in Laut, Betonung und Zeitmass alle Poesie pdi_332.032
bis hinab in die dichterische Prosa, aber diese Seite der Poesie pdi_332.033
ist augenscheinlich weniger zur elementaren Begründung der pdi_332.034
Poetik geeignet als die Lautlehre für die der Grammatik. Versuche, pdi_332.035
die physiologischen Begleiterscheinungen für höhere dichterische pdi_332.036
Vorgänge aufzufinden, wie sie die Franzosen in ihren

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festgestellt werden müssen, in welchem Umfang und pdi_332.002
welchen Verhältnissen die Elemente des Styls innerhalb eines Individuums pdi_332.003
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ästhetischer Formbetrachtung erhoben worden, jedoch pdi_332.008
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die Poetik.

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derselben, welche zunächst einzelne Causalverhältnisse in ihrer pdi_332.013
Gleichförmigkeit feststellt und sich so allmählig einer durchgreifenden pdi_332.014
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Poetik stattfinden muss. Der Grammatiker hat innerhalb der pdi_332.018
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Er kann die physiologischen Bedingungen für die Gleichförmigkeiten pdi_332.023
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Die Poetik kann nicht eine genealogische Gliederung der dichterischen pdi_332.025
Schulen benutzen. Sie vermag auch nicht die Veränderungen, pdi_332.026
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gehen, in feste Reihen zu bringen. Die physiologische Seite des pdi_332.028
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/34>, abgerufen am 24.04.2024.