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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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in dem Poeten ganz ebenso wie in dem Philosophen, Naturforscher pdi_337.003
oder Politiker auftritt. Es wäre überflüssig, hiervon pdi_337.004
zu sprechen, wenn nicht sowohl die gräcisirende als die romantische pdi_337.005
Richtung diese Thatsache verkannt und den Dichter in pdi_337.006
die Wolken idealer Formen oder einer vom Wirklichen abgetrennten pdi_337.007
Scheinwelt versetzt hätte.

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Menschen. Ist auch diese Formel zu eng, so darf doch gesagt pdi_337.010
werden: nur sofern ein psychisches Element oder eine Verbindung pdi_337.011
von solchen mit einem Erlebniss und seiner Darstellung pdi_337.012
in Verhältniss steht, kann es ein Bestandtheil der Dichtung pdi_337.013
sein. Die Unterlage aller wahren Poesie ist sonach Erlebniss, pdi_337.014
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ihr in Beziehung stehen. Alle Bilder der Aussenwelt können pdi_337.016
durch ein solches Verhältniss mittelbar Material für das Schaffen pdi_337.017
des Poeten sein. Jede Operation des Verstandes, welche die pdi_337.018
Erfahrungen verallgemeinert, ordnet und ihre Benutzbarkeit verstärkt, pdi_337.019
dient so ebenfalls der Arbeit des Dichters. Dieser Erfahrungskreis, pdi_337.020
in dem der Dichter wirkt, ist nicht von dem pdi_337.021
unterschieden, aus dem der Philosoph oder der Politiker schöpft. pdi_337.022
Die Jugendbriefe Friedrichs des Grossen wie die eines heutigen pdi_337.023
Staatsmanns sind voll von Elementen, welche ebenso in der pdi_337.024
Seele eines grossen Dichters gefunden werden, und viele Gedanken pdi_337.025
Schillers könnten die eines politischen Redners sein. Eine pdi_337.026
mächtige Lebendigkeit der Seele, Energie der Erfahrungen pdi_337.027
vom Herzen und der Welt, Kraft der Verallgemeinerung und pdi_337.028
des Beweises bilden den gemeinsamen mütterlichen Boden geistiger pdi_337.029
Leistungen von sehr verschiedener Art, darunter auch pdi_337.030
derer der Poeten. Unter dem Wenigen, was wir von Shakespeares pdi_337.031
Lectüre aus seinen Werken schliessen können, ist, dass pdi_337.032
er Montaigne geliebt haben muss. Dieses urwüchsige Verhältniss pdi_337.033
eines elementaren mächtigen Intellects zu Lebenserfahrung und pdi_337.034
Verallgemeinerung derselben muss bei jedem grossen Dichter pdi_337.035
bestanden haben. Goethe erklärt: "Darauf kommt Alles an: pdi_337.036
man muss etwas sein, um etwas zu machen." "Der persönliche

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/39>, abgerufen am 25.04.2024.