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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Nachbildungen entspringt in den Kinderjahren der Dichter die pdi_347.002
Verwebung poetischer Figuren aus Märchen, Romanen, Schauspielen pdi_347.003
in die Wirklichkeit, die wir von Goethe und Dickens pdi_347.004
kennen. Die Grenzen der Phantasie in Bezug auf Nachbildung pdi_347.005
hat Goethe, offenbar aus eigener Erfahrung, hervorgehoben. "Die pdi_347.006
Phantasie kann sich nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen pdi_347.007
denken, als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager, pdi_347.008
neblichter, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie, pdi_347.009
aber niemals in der charakteristischen Vollständigkeit der pdi_347.010
Wirklichkeit."1)

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Der Dichter unterscheidet sich auch durch die energische pdi_347.012
Beseelung der Bilder und die so entstehende Befriedigung pdi_347.013
in einer von Gefühlen gesättigten Anschauung. Die pdi_347.014
Energie seines Lebensgefühls lässt Zustandsbilder vieler Lagen pdi_347.015
seines Lebens entstehen und ihm gegenwärtig bleiben. Goethe pdi_347.016
sagt: "Claude Lorrain kannte die reale Welt bis in ihr kleinstes pdi_347.017
Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt pdi_347.018
seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre pdi_347.019
Idealität." Dasselbe findet im Dichter statt.2) Als man Chamisso pdi_347.020
nach der Bedeutung seines Peter Schlemihl fragte, lehnte pdi_347.021
er eine Aeusserung darüber ab und bemerkte: "er wolle mit der pdi_347.022
Poesie selten etwas; wenn eine Anekdote, ein Wort, ein Bild pdi_347.023
(in diesem Fall eine scherzhafte Unterredung mit Fouque) ihn pdi_347.024
selber von der Seite der linken Pfote bewege, denke er, es pdi_347.025
müsse auch Anderen so gehen, und nun ringe er mühsam mit pdi_347.026
der Sprache, bis es herauskomme."

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Aus dem Dargelegten erklärt sich, dass die grossen Dichter pdi_347.028
von einem unwiderstehlichen Drange vorangetrieben werden, pdi_347.029
Erlebniss irgend einer mächtigen Art, das ihrer Natur gemäss pdi_347.030
ist, zu erfahren, zu wiederholen und in sich zu sammeln. So pdi_347.031
hat Shakespeare mit dem fieberhaften Puls seiner Helden ein pdi_347.032
Leben voll Erfahrungen durchstürmt. Sohn eines wohlhabenden pdi_347.033
Landbesitzers, dann Lehrling eines Advocaten, mit achtzehn

1) pdi_347.034
Goethe, Unterhaltungen mit Müller, S. 81.
2) pdi_347.035
"Eckermann II 126.

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Nachbildungen entspringt in den Kinderjahren der Dichter die pdi_347.002
Verwebung poetischer Figuren aus Märchen, Romanen, Schauspielen pdi_347.003
in die Wirklichkeit, die wir von Goethe und Dickens pdi_347.004
kennen. Die Grenzen der Phantasie in Bezug auf Nachbildung pdi_347.005
hat Goethe, offenbar aus eigener Erfahrung, hervorgehoben. „Die pdi_347.006
Phantasie kann sich nie eine Vortrefflichkeit so vollkommen pdi_347.007
denken, als sie im Individuum wirklich erscheint. Nur vager, pdi_347.008
neblichter, unbestimmter, grenzenloser denkt sie sich die Phantasie, pdi_347.009
aber niemals in der charakteristischen Vollständigkeit der pdi_347.010
Wirklichkeit.“1)

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  Der Dichter unterscheidet sich auch durch die energische pdi_347.012
Beseelung der Bilder und die so entstehende Befriedigung pdi_347.013
in einer von Gefühlen gesättigten Anschauung. Die pdi_347.014
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seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre pdi_347.019
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nach der Bedeutung seines Peter Schlemihl fragte, lehnte pdi_347.021
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Poesie selten etwas; wenn eine Anekdote, ein Wort, ein Bild pdi_347.023
(in diesem Fall eine scherzhafte Unterredung mit Fouqué) ihn pdi_347.024
selber von der Seite der linken Pfote bewege, denke er, es pdi_347.025
müsse auch Anderen so gehen, und nun ringe er mühsam mit pdi_347.026
der Sprache, bis es herauskomme.“

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  Aus dem Dargelegten erklärt sich, dass die grossen Dichter pdi_347.028
von einem unwiderstehlichen Drange vorangetrieben werden, pdi_347.029
Erlebniss irgend einer mächtigen Art, das ihrer Natur gemäss pdi_347.030
ist, zu erfahren, zu wiederholen und in sich zu sammeln. So pdi_347.031
hat Shakespeare mit dem fieberhaften Puls seiner Helden ein pdi_347.032
Leben voll Erfahrungen durchstürmt. Sohn eines wohlhabenden pdi_347.033
Landbesitzers, dann Lehrling eines Advocaten, mit achtzehn

1) pdi_347.034
Goethe, Unterhaltungen mit Müller, S. 81.
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/49>, abgerufen am 25.04.2024.