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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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§. 3.

Dem menschlichen Auge erscheint nur das Menschliche in stets
fortschreitender Steigerung. Und die Summirung derselben ist die
sittliche Welt. Nur auf diese, oder doch vor Allem auf diese, wird
der Ausdruck Geschichte angewandt.

§. 4.

Die Geschichte ist ein Ergebniss empirischen Wahrnehmens,
Erfahrens und Forschens (istoria).

Die unmittelbare Wahrnehmung, die subjective Auffassung des
Wahrgenommenen zu prüfen, zu verificiren, zu objectiver Kenntniss
umzuformen, ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft.

§. 5.

Alle empirische Wahrnehmung und Forschung bestimmt sich nach
den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich
nur auf solche richten, die ihr zu unmittelbarer, zu sinnlicher Wahr-
nehmbarkeit gegenwärtig sind.

Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergan-
genheiten, denn diese sind vergangen; sondern das von ihnen in dem
Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem,
was war und geschah, oder Ueberreste des Gewesenen und Geschehe-
nen sein.

§. 6.

Jeder Punkt in der Gegenwart ist ein gewordener. Was er
war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist
ideell in ihm.

Aber nur ideell, erloschene Züge, latente Scheine; ungewusst sind
sie da, als wären sie nicht da.

Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie zu er-
wecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zu-
rückleuchten zu lassen.

Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von ihnen
noch unvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Ver-
gangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit.

§. 3.

Dem menschlichen Auge erscheint nur das Menschliche in stets
fortschreitender Steigerung. Und die Summirung derselben ist die
sittliche Welt. Nur auf diese, oder doch vor Allem auf diese, wird
der Ausdruck Geschichte angewandt.

§. 4.

Die Geschichte ist ein Ergebniss empirischen Wahrnehmens,
Erfahrens und Forschens (ἱστορία).

Die unmittelbare Wahrnehmung, die subjective Auffassung des
Wahrgenommenen zu prüfen, zu verificiren, zu objectiver Kenntniss
umzuformen, ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft.

§. 5.

Alle empirische Wahrnehmung und Forschung bestimmt sich nach
den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich
nur auf solche richten, die ihr zu unmittelbarer, zu sinnlicher Wahr-
nehmbarkeit gegenwärtig sind.

Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergan-
genheiten, denn diese sind vergangen; sondern das von ihnen in dem
Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem,
was war und geschah, oder Ueberreste des Gewesenen und Geschehe-
nen sein.

§. 6.

Jeder Punkt in der Gegenwart ist ein gewordener. Was er
war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist
ideell in ihm.

Aber nur ideell, erloschene Züge, latente Scheine; ungewusst sind
sie da, als wären sie nicht da.

Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie zu er-
wecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zu-
rückleuchten zu lassen.

Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von ihnen
noch unvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Ver-
gangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit.

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[8/0017] §. 3. Dem menschlichen Auge erscheint nur das Menschliche in stets fortschreitender Steigerung. Und die Summirung derselben ist die sittliche Welt. Nur auf diese, oder doch vor Allem auf diese, wird der Ausdruck Geschichte angewandt. §. 4. Die Geschichte ist ein Ergebniss empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens (ἱστορία). Die unmittelbare Wahrnehmung, die subjective Auffassung des Wahrgenommenen zu prüfen, zu verificiren, zu objectiver Kenntniss umzuformen, ist die Aufgabe der historischen Wissenschaft. §. 5. Alle empirische Wahrnehmung und Forschung bestimmt sich nach den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich nur auf solche richten, die ihr zu unmittelbarer, zu sinnlicher Wahr- nehmbarkeit gegenwärtig sind. Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergan- genheiten, denn diese sind vergangen; sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Ueberreste des Gewesenen und Geschehe- nen sein. §. 6. Jeder Punkt in der Gegenwart ist ein gewordener. Was er war und wie er wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. Aber nur ideell, erloschene Züge, latente Scheine; ungewusst sind sie da, als wären sie nicht da. Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie zu er- wecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zu- rückleuchten zu lassen. Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von ihnen noch unvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Ver- gangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/17>, abgerufen am 28.03.2024.