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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Kunst und Methode.

Es ist gedichtet worden, ehe es eine Poesie, gesprochen worden,
ehe es eine Grammatik und Rhetorik gab. Und das practische Bedürf-
niss hat Stoffe zu mischen und zu zerlegen, Naturkräfte zu menschlichen
Zwecken zu verwenden gelehrt, bevor Chemie und Physik die Natur
methodisch erforscht und ihre Gesetze in wissenschaftlicher Form aus-
gesprochen haben.

Auch die Erinnerungen gehören zum eigensten Wesen und Bedürf-
niss der Menschheit. Wie enge oder weite Kreise sie umfassen mögen,
sie fehlen den Menschen nie und nirgend; höchst persönlich, wie sie
zunächst erscheinen, sind sie ein Band zwischen den Seelen, die sich
in ihnen begegnen. Keine menschliche Gemeinschaft ist ohne sie; jede
hat in ihrem Gewordensein, ihrer Geschichte das Bild ihres Seins, --
einen Gemeinbesitz der Betheiligten, der ihre Gemeinschaft nur um so
fester und inniger macht.

Begreiflich, dass hochbegabten Völkern sich ihre Erinnerungen in
der Sage verschönen und zu Typen, zum Ausdruck der Ideale werden,
auf die der Volksgeist gerichtet ist. Begreiflich auch, dass sich ihnen
ihr Glaube in der Form heiliger Geschichten, die seinen Inhalt als ein
Geschehniss veranschaulichen, rechtfertigt, und dass solche Mythen mit
der Sage zusammenwachsen. Nur dass sie, wenn sich diese rastlos le-
bendige Verschmelzung, endlich gesättigt, in grossen epischen Gestaltun-
gen abschliesst, nicht mehr dem naiven Glauben allein angehören wollen.

Mit der Sammlung und Sichtung solcher Mythen und Sagen hat
die früheste Historie, die der Griechen, begonnen, -- erste Versuche,
Ordnung, Zusammenhang, Uebereinstimmung, ein chronologisches System

Kunst und Methode.

Es ist gedichtet worden, ehe es eine Poesie, gesprochen worden,
ehe es eine Grammatik und Rhetorik gab. Und das practische Bedürf-
niss hat Stoffe zu mischen und zu zerlegen, Naturkräfte zu menschlichen
Zwecken zu verwenden gelehrt, bevor Chemie und Physik die Natur
methodisch erforscht und ihre Gesetze in wissenschaftlicher Form aus-
gesprochen haben.

Auch die Erinnerungen gehören zum eigensten Wesen und Bedürf-
niss der Menschheit. Wie enge oder weite Kreise sie umfassen mögen,
sie fehlen den Menschen nie und nirgend; höchst persönlich, wie sie
zunächst erscheinen, sind sie ein Band zwischen den Seelen, die sich
in ihnen begegnen. Keine menschliche Gemeinschaft ist ohne sie; jede
hat in ihrem Gewordensein, ihrer Geschichte das Bild ihres Seins, —
einen Gemeinbesitz der Betheiligten, der ihre Gemeinschaft nur um so
fester und inniger macht.

Begreiflich, dass hochbegabten Völkern sich ihre Erinnerungen in
der Sage verschönen und zu Typen, zum Ausdruck der Ideale werden,
auf die der Volksgeist gerichtet ist. Begreiflich auch, dass sich ihnen
ihr Glaube in der Form heiliger Geschichten, die seinen Inhalt als ein
Geschehniss veranschaulichen, rechtfertigt, und dass solche Mythen mit
der Sage zusammenwachsen. Nur dass sie, wenn sich diese rastlos le-
bendige Verschmelzung, endlich gesättigt, in grossen epischen Gestaltun-
gen abschliesst, nicht mehr dem naiven Glauben allein angehören wollen.

Mit der Sammlung und Sichtung solcher Mythen und Sagen hat
die früheste Historie, die der Griechen, begonnen, — erste Versuche,
Ordnung, Zusammenhang, Uebereinstimmung, ein chronologisches System

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[[75]/0084] Kunst und Methode. Es ist gedichtet worden, ehe es eine Poesie, gesprochen worden, ehe es eine Grammatik und Rhetorik gab. Und das practische Bedürf- niss hat Stoffe zu mischen und zu zerlegen, Naturkräfte zu menschlichen Zwecken zu verwenden gelehrt, bevor Chemie und Physik die Natur methodisch erforscht und ihre Gesetze in wissenschaftlicher Form aus- gesprochen haben. Auch die Erinnerungen gehören zum eigensten Wesen und Bedürf- niss der Menschheit. Wie enge oder weite Kreise sie umfassen mögen, sie fehlen den Menschen nie und nirgend; höchst persönlich, wie sie zunächst erscheinen, sind sie ein Band zwischen den Seelen, die sich in ihnen begegnen. Keine menschliche Gemeinschaft ist ohne sie; jede hat in ihrem Gewordensein, ihrer Geschichte das Bild ihres Seins, — einen Gemeinbesitz der Betheiligten, der ihre Gemeinschaft nur um so fester und inniger macht. Begreiflich, dass hochbegabten Völkern sich ihre Erinnerungen in der Sage verschönen und zu Typen, zum Ausdruck der Ideale werden, auf die der Volksgeist gerichtet ist. Begreiflich auch, dass sich ihnen ihr Glaube in der Form heiliger Geschichten, die seinen Inhalt als ein Geschehniss veranschaulichen, rechtfertigt, und dass solche Mythen mit der Sage zusammenwachsen. Nur dass sie, wenn sich diese rastlos le- bendige Verschmelzung, endlich gesättigt, in grossen epischen Gestaltun- gen abschliesst, nicht mehr dem naiven Glauben allein angehören wollen. Mit der Sammlung und Sichtung solcher Mythen und Sagen hat die früheste Historie, die der Griechen, begonnen, — erste Versuche, Ordnung, Zusammenhang, Uebereinstimmung, ein chronologisches System

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. [75]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/84>, abgerufen am 19.04.2024.