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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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§ 14.
Fehlerquellen.

Der leitende Gesichtspunkt bei der Wahl des Materials
sowie bei den Bestimmungen für seine Verwendung war, wie
man erkennt, überall das Streben, die Bedingungen, unter
denen die zu beobachtende Gedächtnisthätigkeit ins Spiel trat,
möglichst zu vereinfachen und möglichst konstant zu erhalten.
Natürlich entfernt man sich, je besser dies gelingt, nur
desto mehr von den komplicierten und wechselnden Verhält-
nissen, unter denen diese Thätigkeit im gewöhnlichen Leben
funktioniert und für uns von Bedeutung ist. Aber das ist
kein Einwand gegen die Notwendigkeit jenes Verfahrens.
Der freie Fall, die reibungslosen Maschinen u. s. w., mit denen
sich die Physik beschäftigt, sind auch im Vergleich mit dem,
was im wirklichen Geschehen der Natur vorkommt und für
uns wichtig ist, nur Abstraktionen. Ein annäherndes Ver-
ständnis des Komplicierten und Wirklichen ermöglichen wir
uns fast nirgendwo direkt, sondern auf Umwegen, durch suc-
cessive Zusammensetzung von Erfahrungen, deren jede an
künstlich zurechtgemachten und von der Natur selbst in dieser
Weise selten oder nie erzeugten Fällen gewonnen wurde.

Einstweilen ist es nicht sowohl von Bedeutung, dass der
Anschluss an die Bethätigung des Gedächtnisses im gewöhn-
lichen Leben vorläufig verloren geht, sondern vielmehr um-
gekehrt, dass dieser Anschluss an die Verwickelungen und
Schwankungen des Lebens notgedrungen immer noch ein zu
enger ist. Jenes Streben nach möglichst einfachen und gleich-
artigen Bedingungen stösst natürlich in zahlreichen Punkten
auf Schwierigkeiten, die in der Natur der Sache wurzeln und
es vereiteln. Die unvermeidliche Ungleichartigkeit des

§ 14.
Fehlerquellen.

Der leitende Gesichtspunkt bei der Wahl des Materials
sowie bei den Bestimmungen für seine Verwendung war, wie
man erkennt, überall das Streben, die Bedingungen, unter
denen die zu beobachtende Gedächtnisthätigkeit ins Spiel trat,
möglichst zu vereinfachen und möglichst konstant zu erhalten.
Natürlich entfernt man sich, je besser dies gelingt, nur
desto mehr von den komplicierten und wechselnden Verhält-
nissen, unter denen diese Thätigkeit im gewöhnlichen Leben
funktioniert und für uns von Bedeutung ist. Aber das ist
kein Einwand gegen die Notwendigkeit jenes Verfahrens.
Der freie Fall, die reibungslosen Maschinen u. s. w., mit denen
sich die Physik beschäftigt, sind auch im Vergleich mit dem,
was im wirklichen Geschehen der Natur vorkommt und für
uns wichtig ist, nur Abstraktionen. Ein annäherndes Ver-
ständnis des Komplicierten und Wirklichen ermöglichen wir
uns fast nirgendwo direkt, sondern auf Umwegen, durch suc-
cessive Zusammensetzung von Erfahrungen, deren jede an
künstlich zurechtgemachten und von der Natur selbst in dieser
Weise selten oder nie erzeugten Fällen gewonnen wurde.

Einstweilen ist es nicht sowohl von Bedeutung, daſs der
Anschluſs an die Bethätigung des Gedächtnisses im gewöhn-
lichen Leben vorläufig verloren geht, sondern vielmehr um-
gekehrt, daſs dieser Anschluſs an die Verwickelungen und
Schwankungen des Lebens notgedrungen immer noch ein zu
enger ist. Jenes Streben nach möglichst einfachen und gleich-
artigen Bedingungen stöſst natürlich in zahlreichen Punkten
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es vereiteln. Die unvermeidliche Ungleichartigkeit des

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[36/0052] § 14. Fehlerquellen. Der leitende Gesichtspunkt bei der Wahl des Materials sowie bei den Bestimmungen für seine Verwendung war, wie man erkennt, überall das Streben, die Bedingungen, unter denen die zu beobachtende Gedächtnisthätigkeit ins Spiel trat, möglichst zu vereinfachen und möglichst konstant zu erhalten. Natürlich entfernt man sich, je besser dies gelingt, nur desto mehr von den komplicierten und wechselnden Verhält- nissen, unter denen diese Thätigkeit im gewöhnlichen Leben funktioniert und für uns von Bedeutung ist. Aber das ist kein Einwand gegen die Notwendigkeit jenes Verfahrens. Der freie Fall, die reibungslosen Maschinen u. s. w., mit denen sich die Physik beschäftigt, sind auch im Vergleich mit dem, was im wirklichen Geschehen der Natur vorkommt und für uns wichtig ist, nur Abstraktionen. Ein annäherndes Ver- ständnis des Komplicierten und Wirklichen ermöglichen wir uns fast nirgendwo direkt, sondern auf Umwegen, durch suc- cessive Zusammensetzung von Erfahrungen, deren jede an künstlich zurechtgemachten und von der Natur selbst in dieser Weise selten oder nie erzeugten Fällen gewonnen wurde. Einstweilen ist es nicht sowohl von Bedeutung, daſs der Anschluſs an die Bethätigung des Gedächtnisses im gewöhn- lichen Leben vorläufig verloren geht, sondern vielmehr um- gekehrt, daſs dieser Anschluſs an die Verwickelungen und Schwankungen des Lebens notgedrungen immer noch ein zu enger ist. Jenes Streben nach möglichst einfachen und gleich- artigen Bedingungen stöſst natürlich in zahlreichen Punkten auf Schwierigkeiten, die in der Natur der Sache wurzeln und es vereiteln. Die unvermeidliche Ungleichartigkeit des

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/52>, abgerufen am 28.03.2024.