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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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Zweites Kapitel.
Die Zeit des Luxus und der moralischen und
ästhetischen Entartung
. 1350--1500.
a. Der Umschwung in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts;
der Realismus und die Kleiderordnungen; die Mode.

Es war genau in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts,
als die sociale Ordnung der damaligen civilisirten Welt in Frage
stand, ja fast der Auflösung nahe schien. Die furchtbare Pest
des schwarzen Todes, "das große Sterben", durchzog die Länder
und jagte die Gemüther in Angst und Verzweiflung. Vernunft
und Menschlichkeit wurden zugleich mit Füßen getreten. Die
einen klagten die Juden des Unheils an, und suchten Rache in
der schrecklichsten Verfolgung derselben; die andern, tolle Schwär-
mer, erkannten ein Strafgericht Gottes und vermeinten abzubü-
ßen, indem sie singend, betend und den eigenen Körper geisselnd
von einem Ort zum andern wanderten. Ruhigere Gemüther zo-
gen sich scheu von der Welt zurück und versenkten die Seele in
mystische Betrachtungen. "Darnach aber," so erzählt der Schreiber
der Limburger Chronik, "da das Sterben, die Geisselfahrt, Rö-
merfahrt, Judenschlacht ein End hatten, da hub die Welt wieder
an zu leben und fröhlich zu sein." Die Bedeutung dieser Worte
ist eine viel größere als sie der Chronist im Sinne hat, und wenn
er hinzufügt: "und machten die Leute neue Kleidung", so ist das
nur eine Seite dieses neuen Geistes, der sich nach allen Seiten
hin in einem fröhlichen, aber auch üppigen Leben offenbarte.

Zweites Kapitel.
Die Zeit des Luxus und der moraliſchen und
äſthetiſchen Entartung
. 1350—1500.
a. Der Umſchwung in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts;
der Realismus und die Kleiderordnungen; die Mode.

Es war genau in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts,
als die ſociale Ordnung der damaligen civiliſirten Welt in Frage
ſtand, ja faſt der Auflöſung nahe ſchien. Die furchtbare Peſt
des ſchwarzen Todes, „das große Sterben“, durchzog die Länder
und jagte die Gemüther in Angſt und Verzweiflung. Vernunft
und Menſchlichkeit wurden zugleich mit Füßen getreten. Die
einen klagten die Juden des Unheils an, und ſuchten Rache in
der ſchrecklichſten Verfolgung derſelben; die andern, tolle Schwär-
mer, erkannten ein Strafgericht Gottes und vermeinten abzubü-
ßen, indem ſie ſingend, betend und den eigenen Körper geiſſelnd
von einem Ort zum andern wanderten. Ruhigere Gemüther zo-
gen ſich ſcheu von der Welt zurück und verſenkten die Seele in
myſtiſche Betrachtungen. „Darnach aber,“ ſo erzählt der Schreiber
der Limburger Chronik, „da das Sterben, die Geiſſelfahrt, Rö-
merfahrt, Judenſchlacht ein End hatten, da hub die Welt wieder
an zu leben und fröhlich zu ſein.“ Die Bedeutung dieſer Worte
iſt eine viel größere als ſie der Chroniſt im Sinne hat, und wenn
er hinzufügt: „und machten die Leute neue Kleidung“, ſo iſt das
nur eine Seite dieſes neuen Geiſtes, der ſich nach allen Seiten
hin in einem fröhlichen, aber auch üppigen Leben offenbarte.

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[[171]/0189] Zweites Kapitel. Die Zeit des Luxus und der moraliſchen und äſthetiſchen Entartung. 1350—1500. a. Der Umſchwung in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts; der Realismus und die Kleiderordnungen; die Mode. Es war genau in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, als die ſociale Ordnung der damaligen civiliſirten Welt in Frage ſtand, ja faſt der Auflöſung nahe ſchien. Die furchtbare Peſt des ſchwarzen Todes, „das große Sterben“, durchzog die Länder und jagte die Gemüther in Angſt und Verzweiflung. Vernunft und Menſchlichkeit wurden zugleich mit Füßen getreten. Die einen klagten die Juden des Unheils an, und ſuchten Rache in der ſchrecklichſten Verfolgung derſelben; die andern, tolle Schwär- mer, erkannten ein Strafgericht Gottes und vermeinten abzubü- ßen, indem ſie ſingend, betend und den eigenen Körper geiſſelnd von einem Ort zum andern wanderten. Ruhigere Gemüther zo- gen ſich ſcheu von der Welt zurück und verſenkten die Seele in myſtiſche Betrachtungen. „Darnach aber,“ ſo erzählt der Schreiber der Limburger Chronik, „da das Sterben, die Geiſſelfahrt, Rö- merfahrt, Judenſchlacht ein End hatten, da hub die Welt wieder an zu leben und fröhlich zu ſein.“ Die Bedeutung dieſer Worte iſt eine viel größere als ſie der Chroniſt im Sinne hat, und wenn er hinzufügt: „und machten die Leute neue Kleidung“, ſo iſt das nur eine Seite dieſes neuen Geiſtes, der ſich nach allen Seiten hin in einem fröhlichen, aber auch üppigen Leben offenbarte.

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. [171]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/189>, abgerufen am 18.04.2024.