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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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allen ihren Herrlichkeiten zum Opfer brachten -- man denke
sich da hinein und man muß in der That selbst sehr oberfläch-
lich sein, wenn man die psychologische Genesis für oberflächlich
erklärt. Kein stichhaltiger Einwand ist es, daß diese Wunder im
Angesicht ganzer Versammlungen geschehen sind oder geschehen
sein sollen: Keiner war bei sich, Alle erfüllt von überschwänglichen,
supranaturalistischen Vorstellungen, Empfindungen; Alle beseelte
derselbe Glaube, dieselbe Hoffnung, dieselbe Phantasie. Wem sollte
es aber unbekannt sein, daß es auch gemeinschaftliche oder gleich-
artige Träume, gemeinschaftliche oder gleichartige Visionen gibt,
zumal bei gemüthlichen, in und auf sich beschränkten, enge zusam-
menhaltenden Individuen? Doch dem sei wie es wolle. Ist
die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantasie ober-
flächlich, so fällt die Schuld der Oberflächlichkeit nicht auf den
Erklärer, sondern auf den Gegenstand selbst -- auf das Wun-
der; denn das Wunder drückt, bei Lichte besehen, eben gar nichts
weiter aus, als die Zaubermacht der Phantasie, die ohne
Widerspruch alle Wünsche des Herzens erfüllt.


Das Geheimniß der Auferstehung und übernatürlichen
Geburt.

Die Qualität der Gemüthlichkeit gilt nicht nur von den
praktischen Wundern, wo von selbst diese Qualität in die
Augen springt, da sie unmittelbar das Wohl, den Wunsch des
menschlichen Individuums betreffen; sie gilt auch von den
theoretischen oder eigentlich dogmatischen Wundern. So von
dem Wunder der Auferstehung und übernatürlichen Geburt.

Der Mensch hat, wenigstens im Zustande des Wohl-
seins, den Wunsch, nicht zu sterben. Dieser Wunsch ist ur-

allen ihren Herrlichkeiten zum Opfer brachten — man denke
ſich da hinein und man muß in der That ſelbſt ſehr oberfläch-
lich ſein, wenn man die pſychologiſche Geneſis für oberflächlich
erklärt. Kein ſtichhaltiger Einwand iſt es, daß dieſe Wunder im
Angeſicht ganzer Verſammlungen geſchehen ſind oder geſchehen
ſein ſollen: Keiner war bei ſich, Alle erfüllt von überſchwänglichen,
ſupranaturaliſtiſchen Vorſtellungen, Empfindungen; Alle beſeelte
derſelbe Glaube, dieſelbe Hoffnung, dieſelbe Phantaſie. Wem ſollte
es aber unbekannt ſein, daß es auch gemeinſchaftliche oder gleich-
artige Träume, gemeinſchaftliche oder gleichartige Viſionen gibt,
zumal bei gemüthlichen, in und auf ſich beſchränkten, enge zuſam-
menhaltenden Individuen? Doch dem ſei wie es wolle. Iſt
die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantaſie ober-
flächlich, ſo fällt die Schuld der Oberflächlichkeit nicht auf den
Erklärer, ſondern auf den Gegenſtand ſelbſt — auf das Wun-
der; denn das Wunder drückt, bei Lichte beſehen, eben gar nichts
weiter aus, als die Zaubermacht der Phantaſie, die ohne
Widerſpruch alle Wünſche des Herzens erfüllt.


Das Geheimniß der Auferſtehung und übernatürlichen
Geburt.

Die Qualität der Gemüthlichkeit gilt nicht nur von den
praktiſchen Wundern, wo von ſelbſt dieſe Qualität in die
Augen ſpringt, da ſie unmittelbar das Wohl, den Wunſch des
menſchlichen Individuums betreffen; ſie gilt auch von den
theoretiſchen oder eigentlich dogmatiſchen Wundern. So von
dem Wunder der Auferſtehung und übernatürlichen Geburt.

Der Menſch hat, wenigſtens im Zuſtande des Wohl-
ſeins, den Wunſch, nicht zu ſterben. Dieſer Wunſch iſt ur-

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[175/0193] allen ihren Herrlichkeiten zum Opfer brachten — man denke ſich da hinein und man muß in der That ſelbſt ſehr oberfläch- lich ſein, wenn man die pſychologiſche Geneſis für oberflächlich erklärt. Kein ſtichhaltiger Einwand iſt es, daß dieſe Wunder im Angeſicht ganzer Verſammlungen geſchehen ſind oder geſchehen ſein ſollen: Keiner war bei ſich, Alle erfüllt von überſchwänglichen, ſupranaturaliſtiſchen Vorſtellungen, Empfindungen; Alle beſeelte derſelbe Glaube, dieſelbe Hoffnung, dieſelbe Phantaſie. Wem ſollte es aber unbekannt ſein, daß es auch gemeinſchaftliche oder gleich- artige Träume, gemeinſchaftliche oder gleichartige Viſionen gibt, zumal bei gemüthlichen, in und auf ſich beſchränkten, enge zuſam- menhaltenden Individuen? Doch dem ſei wie es wolle. Iſt die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantaſie ober- flächlich, ſo fällt die Schuld der Oberflächlichkeit nicht auf den Erklärer, ſondern auf den Gegenſtand ſelbſt — auf das Wun- der; denn das Wunder drückt, bei Lichte beſehen, eben gar nichts weiter aus, als die Zaubermacht der Phantaſie, die ohne Widerſpruch alle Wünſche des Herzens erfüllt. Das Geheimniß der Auferſtehung und übernatürlichen Geburt. Die Qualität der Gemüthlichkeit gilt nicht nur von den praktiſchen Wundern, wo von ſelbſt dieſe Qualität in die Augen ſpringt, da ſie unmittelbar das Wohl, den Wunſch des menſchlichen Individuums betreffen; ſie gilt auch von den theoretiſchen oder eigentlich dogmatiſchen Wundern. So von dem Wunder der Auferſtehung und übernatürlichen Geburt. Der Menſch hat, wenigſtens im Zuſtande des Wohl- ſeins, den Wunſch, nicht zu ſterben. Dieſer Wunſch iſt ur-

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/193>, abgerufen am 28.03.2024.