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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Zweiter Theil.
Die Religion in ihrem Widerspruch mit dem Wesen
des Menschen.
Der wesentliche Standpunkt der Religion.

Die Religion ist das Verhalten des Menschen zu seinem
eignen Wesen -- darin liegt ihre Wahrheit -- aber zu seinem
Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem andern,
aparten, von ihm unterschiedenen, ja entgegengesetzten Wesen
-- darin liegt die Unwahrheit, darin die Schranke, darin das
böse Wesen der Religion, darin die unheilschwangere Quelle
des religiösen Fanatismus, darin das oberste, metaphysische
Princip der blutigen Menschenopfer, kurz, darin die prima
materia
aller Gräuel, aller schaudererregenden Scenen in dem
Trauerspiel der Religionsgeschichte.

Und dieses Verhalten zu Gott als einem andern Wesen
ist einerseits ein natürliches, unwillkührliches, unbewußtes,
andererseits ein bewußtes, durch Reflexion vermitteltes. Das
unbewußte Verhalten wurzelt im Ursprung der Religion selbst,
beruht auf ihrem wesentlichen Standpunkt. Dieser Standpunkt
ist der praktische. Der Zweck der Religion ist das Wohl,
das Heil, die Seligkeit des Menschen; die Beziehung des
Menschen auf Gott nichts anderes als die Beziehung desselben
auf sein Heil: Gott ist das realisirte Seelenheil oder die un-
beschränkte Macht, das Heil, die Seligkeit des Menschen zu
verwirklichen *). Alle positiven religiösen Bestimmungen Got-

*) Praeter salutem tuam nihil cogites; solum quae Dei
sunt cures. Thomas a K. (de imit. 1. I. c. 23.) Contra salutem
propriam
cogites nihil. Minus dixi: contra, praeter dixisse de-
Zweiter Theil.
Die Religion in ihrem Widerſpruch mit dem Weſen
des Menſchen.
Der weſentliche Standpunkt der Religion.

Die Religion iſt das Verhalten des Menſchen zu ſeinem
eignen Weſen — darin liegt ihre Wahrheit — aber zu ſeinem
Weſen nicht als dem ſeinigen, ſondern als einem andern,
aparten, von ihm unterſchiedenen, ja entgegengeſetzten Weſen
— darin liegt die Unwahrheit, darin die Schranke, darin das
böſe Weſen der Religion, darin die unheilſchwangere Quelle
des religiöſen Fanatismus, darin das oberſte, metaphyſiſche
Princip der blutigen Menſchenopfer, kurz, darin die prima
materia
aller Gräuel, aller ſchaudererregenden Scenen in dem
Trauerſpiel der Religionsgeſchichte.

Und dieſes Verhalten zu Gott als einem andern Weſen
iſt einerſeits ein natürliches, unwillkührliches, unbewußtes,
andererſeits ein bewußtes, durch Reflexion vermitteltes. Das
unbewußte Verhalten wurzelt im Urſprung der Religion ſelbſt,
beruht auf ihrem weſentlichen Standpunkt. Dieſer Standpunkt
iſt der praktiſche. Der Zweck der Religion iſt das Wohl,
das Heil, die Seligkeit des Menſchen; die Beziehung des
Menſchen auf Gott nichts anderes als die Beziehung deſſelben
auf ſein Heil: Gott iſt das realiſirte Seelenheil oder die un-
beſchränkte Macht, das Heil, die Seligkeit des Menſchen zu
verwirklichen *). Alle poſitiven religiöſen Beſtimmungen Got-

*) Praeter salutem tuam nihil cogites; solum quae Dei
sunt cures. Thomas a K. (de imit. 1. I. c. 23.) Contra salutem
propriam
cogites nihil. Minus dixi: contra, praeter díxisse de-
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[248/0266] Zweiter Theil. Die Religion in ihrem Widerſpruch mit dem Weſen des Menſchen. Der weſentliche Standpunkt der Religion. Die Religion iſt das Verhalten des Menſchen zu ſeinem eignen Weſen — darin liegt ihre Wahrheit — aber zu ſeinem Weſen nicht als dem ſeinigen, ſondern als einem andern, aparten, von ihm unterſchiedenen, ja entgegengeſetzten Weſen — darin liegt die Unwahrheit, darin die Schranke, darin das böſe Weſen der Religion, darin die unheilſchwangere Quelle des religiöſen Fanatismus, darin das oberſte, metaphyſiſche Princip der blutigen Menſchenopfer, kurz, darin die prima materia aller Gräuel, aller ſchaudererregenden Scenen in dem Trauerſpiel der Religionsgeſchichte. Und dieſes Verhalten zu Gott als einem andern Weſen iſt einerſeits ein natürliches, unwillkührliches, unbewußtes, andererſeits ein bewußtes, durch Reflexion vermitteltes. Das unbewußte Verhalten wurzelt im Urſprung der Religion ſelbſt, beruht auf ihrem weſentlichen Standpunkt. Dieſer Standpunkt iſt der praktiſche. Der Zweck der Religion iſt das Wohl, das Heil, die Seligkeit des Menſchen; die Beziehung des Menſchen auf Gott nichts anderes als die Beziehung deſſelben auf ſein Heil: Gott iſt das realiſirte Seelenheil oder die un- beſchränkte Macht, das Heil, die Seligkeit des Menſchen zu verwirklichen *). Alle poſitiven religiöſen Beſtimmungen Got- *) Praeter salutem tuam nihil cogites; solum quae Dei sunt cures. Thomas a K. (de imit. 1. I. c. 23.) Contra salutem propriam cogites nihil. Minus dixi: contra, praeter díxisse de-

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/266>, abgerufen am 16.04.2024.