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Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.

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§ 11. Verfassung und Recht.

Auch die Staats- und Rechtsverfassung der Naturvölker wird nach einigen Seiten uns hier, freilich nur kurz, beschäftigen müssen. Die Kulturstaaten Amerikas so wie die polynesischen Inseln sind es, die wir nach dieser Richtung hin betrachten müssen; denn bei den übrigen Naturvölkern ist theils das Rechts- und Staatsleben zu wenig entwickelt, als dass es irgend welchen Einfluss gehabt hätte, theils so entwickelt, dass dieser Einfluss kein ungünstiger war. Wie das Recht in seiner ältesten Entwickelung immer seine Gesetze "mit Blut" schreibt; so war es auch in Mexiko der Fall: fast alle Verbrechen, selbst geringe Diebstähle, Trunk, Verleumdung u. dergl. wurden mit dem Tod bestraft, und bisweilen die ganze Familie in die Sklaverei verkauft (Waitz 4, 84-85). Denn der Grundsatz, dass die Sippe haften muss für das einzelne verbrecherische Mitglied gilt auch hier. In Peru (4, 414-15) war die Strenge der Gesetze nicht minder gross und die Haftbarkeit der Familie für den Schuldigen, mit dem sie in vielen Fällen den Tod zugleich erlitt, noch grösser. Diese strenge Justiz und namentlich die Haftbarkeit der Familie für den Einzelnen hat in der Südsee ferner, wo sie gleichfalls herrscht, um so grösseren Schaden angerichtet, als, wie wir gleich sehen werden, dort die Gewalt der Herrschenden noch absoluter war als in Amerika. So wurde in Tonga der ganze Stamm eines Aufrührers vernichtet (Mariner 1, 271) und die fortwährenden Rachekriege dieser Völker und Stämme untereinander beruhen theilweise auf dieser blutigen Rechtsauffassung (z. B. für Neuseeland Dieffenbach 1, 93, Haftbarkeit des Stammes für den Einzelnen Thomson 1, 98). Auch in Neuholland sind ziemlich strenge Rechtsstrafen (Grey 2, 236-37), entweder Tod oder Durchstossen einzelner Körpertheile mit dem Speer (wobei oft der Tod erfolgt) oder Speerung, d.h. der Schuldige muss sich den Speerwürfen einer grösseren oder geringeren Menge von Volksgenossen aussetzen, denen er freilich durch seine Geschicklichkeit (Waffen darf er nicht haben), wenn sie ausreicht, ausweichen darf (Grey 2, 244-45). Die Haftbarkeit der Familie, des Stammes für den Einzelnen ist hier wo möglich noch fester, als irgendwo sonst (Grey 2, 239-40; 235-36).

In Mexiko war die Verfassung streng monarchisch, wobei der Adel, der früher wahrscheinlich die höchste Staatsgewalt selbst in Händen gehabt hatte (Waitz 4, 71), wie in anderen monarchischen Staaten auch, grosse Vorrechte über das Volk hatte. Der Herrscher, weil er Stellvertreter Gottes auf Erden war, hatte unumschränkte Gewalt (Waitz 4, 68); und mochte dadurch auch mancherlei Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit geschehen, mochten einzelne Fürsten ihre Macht missbrauchen, wie denn namentlich der letzte von



§ 11. Verfassung und Recht.

Auch die Staats- und Rechtsverfassung der Naturvölker wird nach einigen Seiten uns hier, freilich nur kurz, beschäftigen müssen. Die Kulturstaaten Amerikas so wie die polynesischen Inseln sind es, die wir nach dieser Richtung hin betrachten müssen; denn bei den übrigen Naturvölkern ist theils das Rechts- und Staatsleben zu wenig entwickelt, als dass es irgend welchen Einfluss gehabt hätte, theils so entwickelt, dass dieser Einfluss kein ungünstiger war. Wie das Recht in seiner ältesten Entwickelung immer seine Gesetze »mit Blut« schreibt; so war es auch in Mexiko der Fall: fast alle Verbrechen, selbst geringe Diebstähle, Trunk, Verleumdung u. dergl. wurden mit dem Tod bestraft, und bisweilen die ganze Familie in die Sklaverei verkauft (Waitz 4, 84-85). Denn der Grundsatz, dass die Sippe haften muss für das einzelne verbrecherische Mitglied gilt auch hier. In Peru (4, 414-15) war die Strenge der Gesetze nicht minder gross und die Haftbarkeit der Familie für den Schuldigen, mit dem sie in vielen Fällen den Tod zugleich erlitt, noch grösser. Diese strenge Justiz und namentlich die Haftbarkeit der Familie für den Einzelnen hat in der Südsee ferner, wo sie gleichfalls herrscht, um so grösseren Schaden angerichtet, als, wie wir gleich sehen werden, dort die Gewalt der Herrschenden noch absoluter war als in Amerika. So wurde in Tonga der ganze Stamm eines Aufrührers vernichtet (Mariner 1, 271) und die fortwährenden Rachekriege dieser Völker und Stämme untereinander beruhen theilweise auf dieser blutigen Rechtsauffassung (z. B. für Neuseeland Dieffenbach 1, 93, Haftbarkeit des Stammes für den Einzelnen Thomson 1, 98). Auch in Neuholland sind ziemlich strenge Rechtsstrafen (Grey 2, 236-37), entweder Tod oder Durchstossen einzelner Körpertheile mit dem Speer (wobei oft der Tod erfolgt) oder Speerung, d.h. der Schuldige muss sich den Speerwürfen einer grösseren oder geringeren Menge von Volksgenossen aussetzen, denen er freilich durch seine Geschicklichkeit (Waffen darf er nicht haben), wenn sie ausreicht, ausweichen darf (Grey 2, 244-45). Die Haftbarkeit der Familie, des Stammes für den Einzelnen ist hier wo möglich noch fester, als irgendwo sonst (Grey 2, 239-40; 235-36).

In Mexiko war die Verfassung streng monarchisch, wobei der Adel, der früher wahrscheinlich die höchste Staatsgewalt selbst in Händen gehabt hatte (Waitz 4, 71), wie in anderen monarchischen Staaten auch, grosse Vorrechte über das Volk hatte. Der Herrscher, weil er Stellvertreter Gottes auf Erden war, hatte unumschränkte Gewalt (Waitz 4, 68); und mochte dadurch auch mancherlei Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit geschehen, mochten einzelne Fürsten ihre Macht missbrauchen, wie denn namentlich der letzte von

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 müssen; denn bei den übrigen Naturvölkern ist theils
 das Rechts- und Staatsleben zu wenig entwickelt, als dass es irgend
 welchen Einfluss gehabt hätte, theils so entwickelt, dass
 dieser Einfluss kein ungünstiger war. Wie das Recht in seiner
 ältesten Entwickelung immer seine Gesetze »mit
 Blut« schreibt; so war es auch in Mexiko der Fall: fast alle
 Verbrechen, selbst geringe Diebstähle, Trunk, Verleumdung u.
 dergl. wurden mit dem Tod bestraft, und bisweilen die ganze Familie
 in die Sklaverei verkauft (Waitz 4, 84-85). Denn der Grundsatz,
 dass die Sippe haften muss für das einzelne verbrecherische
 Mitglied gilt auch hier. In Peru (4, 414-15) war die Strenge der
 Gesetze nicht minder gross und die Haftbarkeit der Familie für
 den Schuldigen, mit dem sie in vielen Fällen den Tod zugleich
 erlitt, noch grösser. Diese strenge Justiz und namentlich die
 Haftbarkeit der Familie für den Einzelnen hat in der
 Südsee ferner, wo sie gleichfalls herrscht, um so
 grösseren Schaden angerichtet, als, wie wir gleich sehen
 werden, dort die Gewalt der Herrschenden noch absoluter war als in
 Amerika. So wurde in Tonga der ganze Stamm eines Aufrührers
 vernichtet (Mariner 1, 271) und die fortwährenden Rachekriege
 dieser Völker und Stämme untereinander beruhen theilweise
 auf dieser blutigen Rechtsauffassung (z. B. für Neuseeland
 Dieffenbach 1, 93, Haftbarkeit des Stammes für den Einzelnen
 Thomson 1, 98). Auch in Neuholland sind ziemlich strenge
 Rechtsstrafen (Grey 2, 236-37), entweder Tod oder Durchstossen
 einzelner Körpertheile mit dem Speer (wobei oft der Tod
 erfolgt) oder Speerung, d.h. der Schuldige muss sich den
 Speerwürfen einer grösseren oder geringeren Menge von
 Volksgenossen aussetzen, denen er freilich durch seine
 Geschicklichkeit (Waffen darf er nicht haben), wenn sie ausreicht,
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[0091] § 11. Verfassung und Recht. Auch die Staats- und Rechtsverfassung der Naturvölker wird nach einigen Seiten uns hier, freilich nur kurz, beschäftigen müssen. Die Kulturstaaten Amerikas so wie die polynesischen Inseln sind es, die wir nach dieser Richtung hin betrachten müssen; denn bei den übrigen Naturvölkern ist theils das Rechts- und Staatsleben zu wenig entwickelt, als dass es irgend welchen Einfluss gehabt hätte, theils so entwickelt, dass dieser Einfluss kein ungünstiger war. Wie das Recht in seiner ältesten Entwickelung immer seine Gesetze »mit Blut« schreibt; so war es auch in Mexiko der Fall: fast alle Verbrechen, selbst geringe Diebstähle, Trunk, Verleumdung u. dergl. wurden mit dem Tod bestraft, und bisweilen die ganze Familie in die Sklaverei verkauft (Waitz 4, 84-85). Denn der Grundsatz, dass die Sippe haften muss für das einzelne verbrecherische Mitglied gilt auch hier. In Peru (4, 414-15) war die Strenge der Gesetze nicht minder gross und die Haftbarkeit der Familie für den Schuldigen, mit dem sie in vielen Fällen den Tod zugleich erlitt, noch grösser. Diese strenge Justiz und namentlich die Haftbarkeit der Familie für den Einzelnen hat in der Südsee ferner, wo sie gleichfalls herrscht, um so grösseren Schaden angerichtet, als, wie wir gleich sehen werden, dort die Gewalt der Herrschenden noch absoluter war als in Amerika. So wurde in Tonga der ganze Stamm eines Aufrührers vernichtet (Mariner 1, 271) und die fortwährenden Rachekriege dieser Völker und Stämme untereinander beruhen theilweise auf dieser blutigen Rechtsauffassung (z. B. für Neuseeland Dieffenbach 1, 93, Haftbarkeit des Stammes für den Einzelnen Thomson 1, 98). Auch in Neuholland sind ziemlich strenge Rechtsstrafen (Grey 2, 236-37), entweder Tod oder Durchstossen einzelner Körpertheile mit dem Speer (wobei oft der Tod erfolgt) oder Speerung, d.h. der Schuldige muss sich den Speerwürfen einer grösseren oder geringeren Menge von Volksgenossen aussetzen, denen er freilich durch seine Geschicklichkeit (Waffen darf er nicht haben), wenn sie ausreicht, ausweichen darf (Grey 2, 244-45). Die Haftbarkeit der Familie, des Stammes für den Einzelnen ist hier wo möglich noch fester, als irgendwo sonst (Grey 2, 239-40; 235-36). In Mexiko war die Verfassung streng monarchisch, wobei der Adel, der früher wahrscheinlich die höchste Staatsgewalt selbst in Händen gehabt hatte (Waitz 4, 71), wie in anderen monarchischen Staaten auch, grosse Vorrechte über das Volk hatte. Der Herrscher, weil er Stellvertreter Gottes auf Erden war, hatte unumschränkte Gewalt (Waitz 4, 68); und mochte dadurch auch mancherlei Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit geschehen, mochten einzelne Fürsten ihre Macht missbrauchen, wie denn namentlich der letzte von

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Zitationshilfe: Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/91>, abgerufen am 19.04.2024.