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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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wiederholte: nur von Gleichem werde Gleiches
erkannt; wie auch der Worte eines alten Mysti-
kers, die wir in deutschen Reimen folgendermaßen
ausdrücken möchten:

Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?

Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes
und des Auges wird niemand läugnen, aber sich
beyde zugleich als eins und dasselbe zu denken hat
mehr Schwierigkeit. Indessen wird es faßlicher,
wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes
Licht, das bey der mindesten Veranlassung von in-
nen oder von außen erregt werde. Wir können in
der Finsterniß durch Forderungen der Einbildungs-
kraft uns die hellsten Bilder hervorrufen. Im
Traume erscheinen uns die Gegenstände wie am
vollen Tage. Im wachenden Zustande wird uns
die leiseste äußere Lichteinwirkung bemerkbar; ja
wenn das Organ einen mechanischen Anstoß erlei-
det, so springen Licht und Farben hervor.

Vielleicht aber machen hier diejenigen, welche
nach einer gewissen Ordnung zu verfahren pflegen,

wiederholte: nur von Gleichem werde Gleiches
erkannt; wie auch der Worte eines alten Myſti-
kers, die wir in deutſchen Reimen folgendermaßen
ausdruͤcken moͤchten:

Waͤr’ nicht das Auge ſonnenhaft,
Wie koͤnnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie koͤnnt’ uns Goͤttliches entzuͤcken?

Jene unmittelbare Verwandtſchaft des Lichtes
und des Auges wird niemand laͤugnen, aber ſich
beyde zugleich als eins und daſſelbe zu denken hat
mehr Schwierigkeit. Indeſſen wird es faßlicher,
wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes
Licht, das bey der mindeſten Veranlaſſung von in-
nen oder von außen erregt werde. Wir koͤnnen in
der Finſterniß durch Forderungen der Einbildungs-
kraft uns die hellſten Bilder hervorrufen. Im
Traume erſcheinen uns die Gegenſtaͤnde wie am
vollen Tage. Im wachenden Zuſtande wird uns
die leiſeſte aͤußere Lichteinwirkung bemerkbar; ja
wenn das Organ einen mechaniſchen Anſtoß erlei-
det, ſo ſpringen Licht und Farben hervor.

Vielleicht aber machen hier diejenigen, welche
nach einer gewiſſen Ordnung zu verfahren pflegen,

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[XXXVIII/0044] wiederholte: nur von Gleichem werde Gleiches erkannt; wie auch der Worte eines alten Myſti- kers, die wir in deutſchen Reimen folgendermaßen ausdruͤcken moͤchten: Waͤr’ nicht das Auge ſonnenhaft, Wie koͤnnten wir das Licht erblicken? Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie koͤnnt’ uns Goͤttliches entzuͤcken? Jene unmittelbare Verwandtſchaft des Lichtes und des Auges wird niemand laͤugnen, aber ſich beyde zugleich als eins und daſſelbe zu denken hat mehr Schwierigkeit. Indeſſen wird es faßlicher, wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes Licht, das bey der mindeſten Veranlaſſung von in- nen oder von außen erregt werde. Wir koͤnnen in der Finſterniß durch Forderungen der Einbildungs- kraft uns die hellſten Bilder hervorrufen. Im Traume erſcheinen uns die Gegenſtaͤnde wie am vollen Tage. Im wachenden Zuſtande wird uns die leiſeſte aͤußere Lichteinwirkung bemerkbar; ja wenn das Organ einen mechaniſchen Anſtoß erlei- det, ſo ſpringen Licht und Farben hervor. Vielleicht aber machen hier diejenigen, welche nach einer gewiſſen Ordnung zu verfahren pflegen,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. XXXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/44>, abgerufen am 23.04.2024.