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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬
rück halten, die des Alten herzliche Klage
endlich auch aus seinen Augen hervorlockte.
Alle Schmerzen, die seine Seele drückten,
lösten sich zu gleicher Zeit auf, er überließ
sich ihnen ganz, stieß die Kammerthüre auf,
und stand vor dem Alten, der ein schlechtes
Bette, den einzigen Hausrath dieser armseli¬
gen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen
genöthigt gewesen.

Was hast du mir für Empfindungen rege
gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles,
was in meinem Herzen stockte, hast du los
gelöst; laß dich nicht stören, sondern fahre
fort, indem du deine Leiden linderst, einen
Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬
te aufstehen und etwas reden, Wilhelm ver¬
hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬
tage bemerkt, daß der Mann ungern sprach;
er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬
sack nieder.

und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬
rück halten, die des Alten herzliche Klage
endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte.
Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten,
löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ
ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf,
und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes
Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬
gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen
genöthigt geweſen.

Was haſt du mir für Empfindungen rege
gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles,
was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los
gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre
fort, indem du deine Leiden linderſt, einen
Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬
te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬
hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬
tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach;
er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬
ſack nieder.

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[347/0355] und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬ rück halten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten, löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf, und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬ gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen genöthigt geweſen. Was haſt du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles, was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre fort, indem du deine Leiden linderſt, einen Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬ te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬ hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬ tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach; er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬ ſack nieder.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/355>, abgerufen am 24.04.2024.