Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

den Scheidenden bey der Hand, und indem
sie ihm, auf die Zehen gehoben, einen treu¬
herzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärt¬
lichkeit, auf die Lippen drückte, sagte sie:
Meister! vergiß uns nicht und komm bald
wieder.

Und so lassen wir unsern Freund unter
tausend Gedanken und Empfindungen seine
Reise antreten, und zeichnen hier noch zum
Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit
großem Ausdruck einigemal rezitirt hatte,
und das wir früher mitzutheilen durch den
Drang so mancher sonderbaren Ereignisse
verhindert worden.

Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen
Denn mein Geheimniß ist mir Pflicht;
Ich mögte dir mein ganzes Innre zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.
Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen,

den Scheidenden bey der Hand, und indem
ſie ihm, auf die Zehen gehoben, einen treu¬
herzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärt¬
lichkeit, auf die Lippen drückte, ſagte ſie:
Meiſter! vergiß uns nicht und komm bald
wieder.

Und ſo laſſen wir unſern Freund unter
tauſend Gedanken und Empfindungen ſeine
Reiſe antreten, und zeichnen hier noch zum
Schluſſe ein Gedicht auf, das Mignon mit
großem Ausdruck einigemal rezitirt hatte,
und das wir früher mitzutheilen durch den
Drang ſo mancher ſonderbaren Ereigniſſe
verhindert worden.

Heiß mich nicht reden, heiß mich ſchweigen
Denn mein Geheimniß iſt mir Pflicht;
Ich mögte dir mein ganzes Innre zeigen,
Allein das Schickſal will es nicht.
Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
Die finſtre Nacht, und ſie muß ſich erhellen,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0209" n="203"/>
den Scheidenden bey der Hand, und indem<lb/>
&#x017F;ie ihm, auf die Zehen gehoben, einen treu¬<lb/>
herzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärt¬<lb/>
lichkeit, auf die Lippen drückte, &#x017F;agte &#x017F;ie:<lb/>
Mei&#x017F;ter! vergiß uns nicht und komm bald<lb/>
wieder.</p><lb/>
            <p>Und &#x017F;o la&#x017F;&#x017F;en wir un&#x017F;ern Freund unter<lb/>
tau&#x017F;end Gedanken und Empfindungen &#x017F;eine<lb/>
Rei&#x017F;e antreten, und zeichnen hier noch zum<lb/>
Schlu&#x017F;&#x017F;e ein Gedicht auf, das Mignon mit<lb/>
großem Ausdruck einigemal rezitirt hatte,<lb/>
und das wir früher mitzutheilen durch den<lb/>
Drang &#x017F;o mancher &#x017F;onderbaren Ereigni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
verhindert worden.</p><lb/>
            <lg type="poem">
              <lg n="1">
                <l rendition="#et">Heiß mich nicht reden, heiß mich &#x017F;chweigen</l><lb/>
                <l>Denn mein Geheimniß i&#x017F;t mir Pflicht;</l><lb/>
                <l>Ich mögte dir mein ganzes Innre zeigen,</l><lb/>
                <l>Allein das Schick&#x017F;al will es nicht.<lb/></l>
              </lg>
              <lg n="2">
                <l rendition="#et">Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf</l><lb/>
                <l>Die fin&#x017F;tre Nacht, und &#x017F;ie muß &#x017F;ich erhellen,<lb/></l>
              </lg>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0209] den Scheidenden bey der Hand, und indem ſie ihm, auf die Zehen gehoben, einen treu¬ herzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärt¬ lichkeit, auf die Lippen drückte, ſagte ſie: Meiſter! vergiß uns nicht und komm bald wieder. Und ſo laſſen wir unſern Freund unter tauſend Gedanken und Empfindungen ſeine Reiſe antreten, und zeichnen hier noch zum Schluſſe ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitirt hatte, und das wir früher mitzutheilen durch den Drang ſo mancher ſonderbaren Ereigniſſe verhindert worden. Heiß mich nicht reden, heiß mich ſchweigen Denn mein Geheimniß iſt mir Pflicht; Ich mögte dir mein ganzes Innre zeigen, Allein das Schickſal will es nicht. Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf Die finſtre Nacht, und ſie muß ſich erhellen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/209
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/209>, abgerufen am 16.04.2024.