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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Vorrede.
seyn scheint, und wie man sagt, daß sie sey: oder endlich wie
sie von rechtswegen seyn sollte, abbilde und vorstelle. S.
das XXVIste Cap. seiner Poetick. Wer nun die Sache
besser zu verstehen denckt, der sey so gut und wiederlege die-
sen tiefsinnigen Kenner freyer Künste, der gewiß so viel
Einsicht in die wahre Dicht- und Rede-Kunst gehabt, als
ob er sich sein lebenlang auf nichts anders gelegt hätte.
So lange man aber dieß nicht gethan, so erlaube man es
mir eben den Weg zu gehen, darauf die gesunde Vernunft
alle gute Poeten und Criticos, die vor mir gelebt, zu allen
Zeiten und in allen Ländern geleitet hat. Man mercke
aber endlich auch, daß es ein anders sey, etwas in metrischer
und etwas in poetischer Schreibart abfassen. Vieles ist
metrisch genug geschrieben; das ist, es scandirt und reimet
gut genug: Aber es ist kein Fünckchen von Poetischem
Geiste darinn; und verdient also eine gereimte Prose zu
heißen. Vieles hergegen ist sehr poetisch geschrieben, ob
es gleich weder Sylbenmaaß noch Reime hat. Von bey-
dem aber ist noch ein poetischer Jnhalt, wie eine Person
von dem Kleide, so sie trägt, unterschieden. Ein Gedichte
kan metrisch und prosaisch, schlecht weg, auch poetisch be-
schrieben werden: bleibt aber allemahl ein Gedichte: wie
dieses alles in dem Wercke selbst ausführlicher vorkom-
men wird.

Wegen des Dritten Capitels, vom guten Geschma-
cke eines Poeten, habe ich noch zu erinnern, daß ich nach der
Zeit, als es schon gedruckt war, gefunden, daß auch der Hr.
von Leibnitz meiner Meynung gewesen. Jch finde nehm-
lich in den Anmerckungen über des Grafen von Schaffts-
bury oberwehntes Buch, im Recueil de diverses pieces,
p.
285 folgende Worte: Le Discours sur le Gout, Misc. 3
c. 2
me paroit considerable. Le Gout distingue de

l'En-

Vorrede.
ſeyn ſcheint, und wie man ſagt, daß ſie ſey: oder endlich wie
ſie von rechtswegen ſeyn ſollte, abbilde und vorſtelle. S.
das XXVIſte Cap. ſeiner Poetick. Wer nun die Sache
beſſer zu verſtehen denckt, der ſey ſo gut und wiederlege die-
ſen tiefſinnigen Kenner freyer Kuͤnſte, der gewiß ſo viel
Einſicht in die wahre Dicht- und Rede-Kunſt gehabt, als
ob er ſich ſein lebenlang auf nichts anders gelegt haͤtte.
So lange man aber dieß nicht gethan, ſo erlaube man es
mir eben den Weg zu gehen, darauf die geſunde Vernunft
alle gute Poeten und Criticos, die vor mir gelebt, zu allen
Zeiten und in allen Laͤndern geleitet hat. Man mercke
aber endlich auch, daß es ein anders ſey, etwas in metriſcher
und etwas in poetiſcher Schreibart abfaſſen. Vieles iſt
metriſch genug geſchrieben; das iſt, es ſcandirt und reimet
gut genug: Aber es iſt kein Fuͤnckchen von Poetiſchem
Geiſte darinn; und verdient alſo eine gereimte Proſe zu
heißen. Vieles hergegen iſt ſehr poetiſch geſchrieben, ob
es gleich weder Sylbenmaaß noch Reime hat. Von bey-
dem aber iſt noch ein poetiſcher Jnhalt, wie eine Perſon
von dem Kleide, ſo ſie traͤgt, unterſchieden. Ein Gedichte
kan metriſch und proſaiſch, ſchlecht weg, auch poetiſch be-
ſchrieben werden: bleibt aber allemahl ein Gedichte: wie
dieſes alles in dem Wercke ſelbſt ausfuͤhrlicher vorkom-
men wird.

Wegen des Dritten Capitels, vom guten Geſchma-
cke eines Poeten, habe ich noch zu erinnern, daß ich nach der
Zeit, als es ſchon gedruckt war, gefunden, daß auch der Hr.
von Leibnitz meiner Meynung geweſen. Jch finde nehm-
lich in den Anmerckungen uͤber des Grafen von Schaffts-
bury oberwehntes Buch, im Recueil de diverſes pieces,
p.
285 folgende Worte: Le Diſcours ſur le Gout, Miſc. 3
c. 2
me paroit conſiderable. Le Gout diſtingué de

l’En-
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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/24>, abgerufen am 28.03.2024.