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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das XI. Capitel
Das eilfte Capitel.
Von der poetischen Schreibart.

NAchdem wir nun alles Zubehör der poetischen Schreib-
art insbesondre nach einander erwogen haben; so
müssen wir auch sehen, was aus Zusammenfügung
alles dessen in der Poesie vor ein gantzes entsteht. Dieses
ist die poetische Schreibart, die wir in diesem Capitel ab-
handeln wollen. Was die Schreibart überhaupt sey, ist
nach so vielen andern auch von mir in meiner Redekunst
p. 70. schon abgehandelt worden. Jch habe daselbst ge-
wiesen, daß sie der Vortrag vieler zusammenhangenden
Gedancken sey, welcher durch solche Sätze und Redens-
arten geschieht, daraus man ihre Verknüpfung deutlich
wahrnehmen kan. Diese Erklärung gab mir damahls An-
laß zu folgern, daß es in der Schreibart hauptsächlich auf
die Art zu dencken ankomme, und ein Scribent in seinen
Schrifften, wo nicht seine gantze Gemüths-Beschaffenheit,
zum wenigsten doch die Fähigkeit seines Verstandes ab-
schildere. Denn kein Mensch kan besser schreiben, als er
vorher gedacht hat. Ein wüster und leerer Kopf kan gar
nichts, ein verwirrter nichts ordentliches, ein schläfriger
nichts lebhafftes, ein finstrer Geist nicht deutlich, ein nie-
derträchtiges Gemüth nicht edel, ein närrischer Phantast
nicht vernünftig schreiben. Es ist also eine vergebliche Sa-
che, wenn sich viel junge Leute auf eine schöne Schreibart
legen wollen; ehe sie recht dencken gelernt. Der Kopf muß
erst recht in die Falten gerückt, von Unwissenheit, Jrrthü-
mern und Vorurtheilen befreyet, mit Wissenschafften, Liebe
der Wahrheit und Erkentniß des Guten erfüllet werden: so
wird hernach die Feder von sich selbst folgen:

Verbaque rem praeuisam non inuita sequentur.
Horat.

So viel war von der Schreibart überhaupt allhier zu
wiederholen nöthig. Die poetische insbesondre anlangend,

so
Das XI. Capitel
Das eilfte Capitel.
Von der poetiſchen Schreibart.

NAchdem wir nun alles Zubehoͤr der poetiſchen Schreib-
art insbeſondre nach einander erwogen haben; ſo
muͤſſen wir auch ſehen, was aus Zuſammenfuͤgung
alles deſſen in der Poeſie vor ein gantzes entſteht. Dieſes
iſt die poetiſche Schreibart, die wir in dieſem Capitel ab-
handeln wollen. Was die Schreibart uͤberhaupt ſey, iſt
nach ſo vielen andern auch von mir in meiner Redekunſt
p. 70. ſchon abgehandelt worden. Jch habe daſelbſt ge-
wieſen, daß ſie der Vortrag vieler zuſammenhangenden
Gedancken ſey, welcher durch ſolche Saͤtze und Redens-
arten geſchieht, daraus man ihre Verknuͤpfung deutlich
wahrnehmen kan. Dieſe Erklaͤrung gab mir damahls An-
laß zu folgern, daß es in der Schreibart hauptſaͤchlich auf
die Art zu dencken ankomme, und ein Scribent in ſeinen
Schrifften, wo nicht ſeine gantze Gemuͤths-Beſchaffenheit,
zum wenigſten doch die Faͤhigkeit ſeines Verſtandes ab-
ſchildere. Denn kein Menſch kan beſſer ſchreiben, als er
vorher gedacht hat. Ein wuͤſter und leerer Kopf kan gar
nichts, ein verwirrter nichts ordentliches, ein ſchlaͤfriger
nichts lebhafftes, ein finſtrer Geiſt nicht deutlich, ein nie-
dertraͤchtiges Gemuͤth nicht edel, ein naͤrriſcher Phantaſt
nicht vernuͤnftig ſchreiben. Es iſt alſo eine vergebliche Sa-
che, wenn ſich viel junge Leute auf eine ſchoͤne Schreibart
legen wollen; ehe ſie recht dencken gelernt. Der Kopf muß
erſt recht in die Falten geruͤckt, von Unwiſſenheit, Jrrthuͤ-
mern und Vorurtheilen befreyet, mit Wiſſenſchafften, Liebe
der Wahrheit und Erkentniß des Guten erfuͤllet werden: ſo
wird hernach die Feder von ſich ſelbſt folgen:

Verbaque rem praeuiſam non inuita ſequentur.
Horat.

So viel war von der Schreibart uͤberhaupt allhier zu
wiederholen noͤthig. Die poetiſche insbeſondre anlangend,

ſo
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[282/0310] Das XI. Capitel Das eilfte Capitel. Von der poetiſchen Schreibart. NAchdem wir nun alles Zubehoͤr der poetiſchen Schreib- art insbeſondre nach einander erwogen haben; ſo muͤſſen wir auch ſehen, was aus Zuſammenfuͤgung alles deſſen in der Poeſie vor ein gantzes entſteht. Dieſes iſt die poetiſche Schreibart, die wir in dieſem Capitel ab- handeln wollen. Was die Schreibart uͤberhaupt ſey, iſt nach ſo vielen andern auch von mir in meiner Redekunſt p. 70. ſchon abgehandelt worden. Jch habe daſelbſt ge- wieſen, daß ſie der Vortrag vieler zuſammenhangenden Gedancken ſey, welcher durch ſolche Saͤtze und Redens- arten geſchieht, daraus man ihre Verknuͤpfung deutlich wahrnehmen kan. Dieſe Erklaͤrung gab mir damahls An- laß zu folgern, daß es in der Schreibart hauptſaͤchlich auf die Art zu dencken ankomme, und ein Scribent in ſeinen Schrifften, wo nicht ſeine gantze Gemuͤths-Beſchaffenheit, zum wenigſten doch die Faͤhigkeit ſeines Verſtandes ab- ſchildere. Denn kein Menſch kan beſſer ſchreiben, als er vorher gedacht hat. Ein wuͤſter und leerer Kopf kan gar nichts, ein verwirrter nichts ordentliches, ein ſchlaͤfriger nichts lebhafftes, ein finſtrer Geiſt nicht deutlich, ein nie- dertraͤchtiges Gemuͤth nicht edel, ein naͤrriſcher Phantaſt nicht vernuͤnftig ſchreiben. Es iſt alſo eine vergebliche Sa- che, wenn ſich viel junge Leute auf eine ſchoͤne Schreibart legen wollen; ehe ſie recht dencken gelernt. Der Kopf muß erſt recht in die Falten geruͤckt, von Unwiſſenheit, Jrrthuͤ- mern und Vorurtheilen befreyet, mit Wiſſenſchafften, Liebe der Wahrheit und Erkentniß des Guten erfuͤllet werden: ſo wird hernach die Feder von ſich ſelbſt folgen: Verbaque rem praeuiſam non inuita ſequentur. Horat. So viel war von der Schreibart uͤberhaupt allhier zu wiederholen noͤthig. Die poetiſche insbeſondre anlangend, ſo

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/310>, abgerufen am 29.03.2024.