Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

Bild:
<< vorherige Seite


Das I. Capitel.
Vom Ursprunge und Wachsthume
der Poesie überhaupt.

WEnn das Alterthum einer Sache ein Ansehen
geben oder einen besondern Werth beylegen
kan; so ist gewiß die Poesie eine von den wich-
tigsten freyen Künsten, ja der vornehmste Theil
der Gelehrsamkeit. Sie ist so alt, daß sie auch vor der Wissen-
schafft der Sterne hierinn den Vorzug behaupten kan, die doch
von den uralten Chaldäern, oder wie andre meynen, von den
Egyptern, bald nach der Sündfluth schon eifrig getrieben wor-
den. Und das ist kein Wunder. Die Astronomie hat ihren
Ursprung ausser dem Menschen, in der sehr weit entlegenen
Schönheit des Himmels. Die Poesie hergegen hat ihren
Grund im Menschen selbst, und geht ihn also weit näher an.
Sie hat ihren ersten Quell in den Gemüths-Neigungen des
Menschen. So alt also diese sind, so alt ist auch die Poesie;
und wenn sie ja noch einer andern freyen Kunst weichen soll,
so wird sie bloß die Music, so zu reden, vor ihre ältere Schwe-
ster erkennen.

Einige wollen behaupten, daß die allerersten Menschen
das Singen von den Vögeln gelernet. Es kan solches freylich
wohl nicht gantz und gar geleugnet werden; vielmehr hat es

eine
D 5


Das I. Capitel.
Vom Urſprunge und Wachsthume
der Poeſie uͤberhaupt.

WEnn das Alterthum einer Sache ein Anſehen
geben oder einen beſondern Werth beylegen
kan; ſo iſt gewiß die Poeſie eine von den wich-
tigſten freyen Kuͤnſten, ja der vornehmſte Theil
der Gelehrſamkeit. Sie iſt ſo alt, daß ſie auch vor der Wiſſen-
ſchafft der Sterne hierinn den Vorzug behaupten kan, die doch
von den uralten Chaldaͤern, oder wie andre meynen, von den
Egyptern, bald nach der Suͤndfluth ſchon eifrig getrieben wor-
den. Und das iſt kein Wunder. Die Aſtronomie hat ihren
Urſprung auſſer dem Menſchen, in der ſehr weit entlegenen
Schoͤnheit des Himmels. Die Poeſie hergegen hat ihren
Grund im Menſchen ſelbſt, und geht ihn alſo weit naͤher an.
Sie hat ihren erſten Quell in den Gemuͤths-Neigungen des
Menſchen. So alt alſo dieſe ſind, ſo alt iſt auch die Poeſie;
und wenn ſie ja noch einer andern freyen Kunſt weichen ſoll,
ſo wird ſie bloß die Muſic, ſo zu reden, vor ihre aͤltere Schwe-
ſter erkennen.

Einige wollen behaupten, daß die allererſten Menſchen
das Singen von den Voͤgeln gelernet. Es kan ſolches freylich
wohl nicht gantz und gar geleugnet werden; vielmehr hat es

eine
D 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0085" n="[57]"/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Das <hi rendition="#aq">I.</hi> Capitel.<lb/>
Vom Ur&#x017F;prunge und Wachsthume<lb/>
der Poe&#x017F;ie u&#x0364;berhaupt.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>Enn das Alterthum einer Sache ein An&#x017F;ehen<lb/>
geben oder einen be&#x017F;ondern Werth beylegen<lb/>
kan; &#x017F;o i&#x017F;t gewiß die Poe&#x017F;ie eine von den wich-<lb/>
tig&#x017F;ten freyen Ku&#x0364;n&#x017F;ten, ja der vornehm&#x017F;te Theil<lb/>
der Gelehr&#x017F;amkeit. Sie i&#x017F;t &#x017F;o alt, daß &#x017F;ie auch vor der Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chafft der Sterne hierinn den Vorzug behaupten kan, die doch<lb/>
von den uralten Chalda&#x0364;ern, oder wie andre meynen, von den<lb/>
Egyptern, bald nach der Su&#x0364;ndfluth &#x017F;chon eifrig getrieben wor-<lb/>
den. Und das i&#x017F;t kein Wunder. Die A&#x017F;tronomie hat ihren<lb/>
Ur&#x017F;prung au&#x017F;&#x017F;er dem Men&#x017F;chen, in der &#x017F;ehr weit entlegenen<lb/>
Scho&#x0364;nheit des Himmels. Die Poe&#x017F;ie hergegen hat ihren<lb/>
Grund im Men&#x017F;chen &#x017F;elb&#x017F;t, und geht ihn al&#x017F;o weit na&#x0364;her an.<lb/>
Sie hat ihren er&#x017F;ten Quell in den Gemu&#x0364;ths-Neigungen des<lb/>
Men&#x017F;chen. So alt al&#x017F;o die&#x017F;e &#x017F;ind, &#x017F;o alt i&#x017F;t auch die Poe&#x017F;ie;<lb/>
und wenn &#x017F;ie ja noch einer andern freyen Kun&#x017F;t weichen &#x017F;oll,<lb/>
&#x017F;o wird &#x017F;ie bloß die Mu&#x017F;ic, &#x017F;o zu reden, vor ihre a&#x0364;ltere Schwe-<lb/>
&#x017F;ter erkennen.</p><lb/>
          <p>Einige wollen behaupten, daß die allerer&#x017F;ten Men&#x017F;chen<lb/>
das Singen von den Vo&#x0364;geln gelernet. Es kan &#x017F;olches freylich<lb/>
wohl nicht gantz und gar geleugnet werden; vielmehr hat es<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 5</fw><fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[57]/0085] Das I. Capitel. Vom Urſprunge und Wachsthume der Poeſie uͤberhaupt. WEnn das Alterthum einer Sache ein Anſehen geben oder einen beſondern Werth beylegen kan; ſo iſt gewiß die Poeſie eine von den wich- tigſten freyen Kuͤnſten, ja der vornehmſte Theil der Gelehrſamkeit. Sie iſt ſo alt, daß ſie auch vor der Wiſſen- ſchafft der Sterne hierinn den Vorzug behaupten kan, die doch von den uralten Chaldaͤern, oder wie andre meynen, von den Egyptern, bald nach der Suͤndfluth ſchon eifrig getrieben wor- den. Und das iſt kein Wunder. Die Aſtronomie hat ihren Urſprung auſſer dem Menſchen, in der ſehr weit entlegenen Schoͤnheit des Himmels. Die Poeſie hergegen hat ihren Grund im Menſchen ſelbſt, und geht ihn alſo weit naͤher an. Sie hat ihren erſten Quell in den Gemuͤths-Neigungen des Menſchen. So alt alſo dieſe ſind, ſo alt iſt auch die Poeſie; und wenn ſie ja noch einer andern freyen Kunſt weichen ſoll, ſo wird ſie bloß die Muſic, ſo zu reden, vor ihre aͤltere Schwe- ſter erkennen. Einige wollen behaupten, daß die allererſten Menſchen das Singen von den Voͤgeln gelernet. Es kan ſolches freylich wohl nicht gantz und gar geleugnet werden; vielmehr hat es eine D 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/85
Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. [57]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/85>, abgerufen am 29.03.2024.