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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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des Volkscharakters gibt Berlin eine nützliche, aber unangenehme
Monotonie^ es ist eine schöne Uniform, eine prächtige Kaserne, in
welcher der Berliner steckt. Wien, ursprünglich in einem Walde er¬
baut, hat nicht nur in seiner Umgebung, sondern auch in seinen Be¬
wohnern Manches von dem ursprünglichen Waldcharakter conservirt.
Da draußen stehen die Bäume und Berggruppen noch in ihrer schö¬
nen Frische, und drinnen hüpft das Wild, gezähmt zwar und von
Förstern überwacht, in lustigen Kapriolen bunt durch einander, böh¬
mische Hirsche, ungarische Böcke, steyrische Gemsen, polnische Wild-
schweine° österreichische Hähnerl -- gruppiren sich mannichfaltig im
frischen Natursinn, verschiedenen Trieben und Gelüsten folgend und
für den Beobachter daher interessanter und ergötzlicher.

Das Volksleben in Berlin hält in keiner Beziehung einen Ver-
gleich mit dem Wiener aus. Nicht blos, weil dieses in seiner äußeren
Erscheinung reicher und abwechselnder ist, da eS eine Mosaik der
verschiedensten Nationalitäten bildet; nicht blos, weil man im Wiener
Prater die ungarischen Husaren bei dem Cimbal der Zigeuner ihre
Nationaltänze tanzen sieht, im Lerchenfeld den steyrischen Jodler und das
österreichische Fliuserl singen hört; nicht, weil man im Parterre der
italienischen Oper die schwarzäugigen Söhne des lombardisch.-venetia-
nischen Königreichs ihrer ganzen nationalen Musikfurie sich überlassen
sieht; nicht, weil im "Elisium" der Wurstel österreichisch improvisirt;
nicht, weil in der Brigittenau Costüme, Gesten und Sprachen der
hunderttausendköpsigen Volksmasse so babylonisch durch einander sich
mengen -- fondern weil das innere Leben des Volkes liebenswür¬
diger, gemüthvoller und südlich wärmer ist. Wagt es ein Mal, im
anständigen Nock, als wohlgekleideter Patrizier in eine jener Kneipen
Berlins zu treten, wo der Arbeiter bei Schnaps und Weißbier seine
sonntäglichen Orgien feiert! Die erhitzten Gesichter aller Anwesenden
werden sich bald auf Euch richten. Ein rauflustiger Bengel wird
bald ein Schimpfwort für Euch wissen, und wehe Euch, wenn Ihr
nicht in der Ecke Euch still zu halten versteht; Euer Rock wird nicht
so ganz den Schauplatz wieder verlassen, wie er ihn betreten, und
wohl Euch, wenn Euer Rücken nicht ein gleiches Schicksal hat. --
Oftmals habe ich Berliner nach jenen Volksgarten Wiens geführt,
wo das Proletariat der untersten Stufen sich wohl thut bei sau¬
rem osterrcichcr Wein und schmalen Wiener Würsteln, und fast jedes


Grenzboten 1844. l. 69

des Volkscharakters gibt Berlin eine nützliche, aber unangenehme
Monotonie^ es ist eine schöne Uniform, eine prächtige Kaserne, in
welcher der Berliner steckt. Wien, ursprünglich in einem Walde er¬
baut, hat nicht nur in seiner Umgebung, sondern auch in seinen Be¬
wohnern Manches von dem ursprünglichen Waldcharakter conservirt.
Da draußen stehen die Bäume und Berggruppen noch in ihrer schö¬
nen Frische, und drinnen hüpft das Wild, gezähmt zwar und von
Förstern überwacht, in lustigen Kapriolen bunt durch einander, böh¬
mische Hirsche, ungarische Böcke, steyrische Gemsen, polnische Wild-
schweine° österreichische Hähnerl — gruppiren sich mannichfaltig im
frischen Natursinn, verschiedenen Trieben und Gelüsten folgend und
für den Beobachter daher interessanter und ergötzlicher.

Das Volksleben in Berlin hält in keiner Beziehung einen Ver-
gleich mit dem Wiener aus. Nicht blos, weil dieses in seiner äußeren
Erscheinung reicher und abwechselnder ist, da eS eine Mosaik der
verschiedensten Nationalitäten bildet; nicht blos, weil man im Wiener
Prater die ungarischen Husaren bei dem Cimbal der Zigeuner ihre
Nationaltänze tanzen sieht, im Lerchenfeld den steyrischen Jodler und das
österreichische Fliuserl singen hört; nicht, weil man im Parterre der
italienischen Oper die schwarzäugigen Söhne des lombardisch.-venetia-
nischen Königreichs ihrer ganzen nationalen Musikfurie sich überlassen
sieht; nicht, weil im „Elisium" der Wurstel österreichisch improvisirt;
nicht, weil in der Brigittenau Costüme, Gesten und Sprachen der
hunderttausendköpsigen Volksmasse so babylonisch durch einander sich
mengen — fondern weil das innere Leben des Volkes liebenswür¬
diger, gemüthvoller und südlich wärmer ist. Wagt es ein Mal, im
anständigen Nock, als wohlgekleideter Patrizier in eine jener Kneipen
Berlins zu treten, wo der Arbeiter bei Schnaps und Weißbier seine
sonntäglichen Orgien feiert! Die erhitzten Gesichter aller Anwesenden
werden sich bald auf Euch richten. Ein rauflustiger Bengel wird
bald ein Schimpfwort für Euch wissen, und wehe Euch, wenn Ihr
nicht in der Ecke Euch still zu halten versteht; Euer Rock wird nicht
so ganz den Schauplatz wieder verlassen, wie er ihn betreten, und
wohl Euch, wenn Euer Rücken nicht ein gleiches Schicksal hat. —
Oftmals habe ich Berliner nach jenen Volksgarten Wiens geführt,
wo das Proletariat der untersten Stufen sich wohl thut bei sau¬
rem osterrcichcr Wein und schmalen Wiener Würsteln, und fast jedes


Grenzboten 1844. l. 69
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[0465] des Volkscharakters gibt Berlin eine nützliche, aber unangenehme Monotonie^ es ist eine schöne Uniform, eine prächtige Kaserne, in welcher der Berliner steckt. Wien, ursprünglich in einem Walde er¬ baut, hat nicht nur in seiner Umgebung, sondern auch in seinen Be¬ wohnern Manches von dem ursprünglichen Waldcharakter conservirt. Da draußen stehen die Bäume und Berggruppen noch in ihrer schö¬ nen Frische, und drinnen hüpft das Wild, gezähmt zwar und von Förstern überwacht, in lustigen Kapriolen bunt durch einander, böh¬ mische Hirsche, ungarische Böcke, steyrische Gemsen, polnische Wild- schweine° österreichische Hähnerl — gruppiren sich mannichfaltig im frischen Natursinn, verschiedenen Trieben und Gelüsten folgend und für den Beobachter daher interessanter und ergötzlicher. Das Volksleben in Berlin hält in keiner Beziehung einen Ver- gleich mit dem Wiener aus. Nicht blos, weil dieses in seiner äußeren Erscheinung reicher und abwechselnder ist, da eS eine Mosaik der verschiedensten Nationalitäten bildet; nicht blos, weil man im Wiener Prater die ungarischen Husaren bei dem Cimbal der Zigeuner ihre Nationaltänze tanzen sieht, im Lerchenfeld den steyrischen Jodler und das österreichische Fliuserl singen hört; nicht, weil man im Parterre der italienischen Oper die schwarzäugigen Söhne des lombardisch.-venetia- nischen Königreichs ihrer ganzen nationalen Musikfurie sich überlassen sieht; nicht, weil im „Elisium" der Wurstel österreichisch improvisirt; nicht, weil in der Brigittenau Costüme, Gesten und Sprachen der hunderttausendköpsigen Volksmasse so babylonisch durch einander sich mengen — fondern weil das innere Leben des Volkes liebenswür¬ diger, gemüthvoller und südlich wärmer ist. Wagt es ein Mal, im anständigen Nock, als wohlgekleideter Patrizier in eine jener Kneipen Berlins zu treten, wo der Arbeiter bei Schnaps und Weißbier seine sonntäglichen Orgien feiert! Die erhitzten Gesichter aller Anwesenden werden sich bald auf Euch richten. Ein rauflustiger Bengel wird bald ein Schimpfwort für Euch wissen, und wehe Euch, wenn Ihr nicht in der Ecke Euch still zu halten versteht; Euer Rock wird nicht so ganz den Schauplatz wieder verlassen, wie er ihn betreten, und wohl Euch, wenn Euer Rücken nicht ein gleiches Schicksal hat. — Oftmals habe ich Berliner nach jenen Volksgarten Wiens geführt, wo das Proletariat der untersten Stufen sich wohl thut bei sau¬ rem osterrcichcr Wein und schmalen Wiener Würsteln, und fast jedes Grenzboten 1844. l. 69

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/465>, abgerufen am 25.04.2024.