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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Erziehung liegt der Gegensatz von Gutem und Bösem als festen Be¬
stimmungen des menschlichen Wesens zu Grunde, der Mensch soll durch
die Allwendung der Zuchtmittel vom Bösen zum Guten gebracht wer¬
den, man behandelt ihn wie ein Kind. Das Gute ist hier im Allge¬
meinen das, was der Gesellschaft dient, Jeder soll ein "nützliches"
Glied der Gesellschaft sein, das Böse ist das, was die Gesellschaft ge¬
fährdet, der Verbrecher ist ein schädliches Glied der Gesellschaft. Denkt
man sich nun den gesellschaftlichen Zustand, wie er besteht, als den
unbezweifelbar vortrefflichen, guten, heiligen, so stellt sich die Aufleh¬
nung des Einzelnen gegen denselben allerdings als eine Krankheits¬
erscheinung, als eine Verrücktheit dar, und man kann es sich zur Auf¬
gabe machen, den moralischen Schaden des Einzelnen wo möglich in
der Wurzel zu vertilgen und das Uebel zu heilen. Naturen, die in
diesem Sinne heilbar sein sollen, müßten solche sein, welche sich dem
vorausgesetzten guten und heilsamen Zustande der Gesellschaft nur aus
Unwissenheit oder Schwachheit und Verirrung nicht haben einfügen
wollen. In solchen idealen Voraussetzungen von einem absolut guten
Zustande der Gesellschaft, von einer Krankhaftigkeit und Heilbarkeit
deö Willens, der steh gegen diesen Zustand auflehnt, bewegt sich das
philanthropische Besserungösystem; so sehr es vorgibt, vorzugsweise
praktisch zu kein, ist es doch ganz in einer geträumten Welt befangen,
und die Gewalt und Herabwürdigung, welche es erwachsenen Personen
mit seiner Schulkinderzuchtmethode anthut, möchte unter Umständen
kaum eine geringere Barbarei in sich schließen, als das raffinirte Mar¬
tersystem der einsamen Einsperrung, die fürchterlichste Ausgeburt des
modernen Spiritualismus, der sich über die Folterkammern und Schei¬
terhaufen des Mittelalters Wunder wie hoch erhaben dünkt. Die
Philanthropen vom reinen Wasser, wie Appert, thun noch immer, als
ob die absolute Gültigkeit der gesellschaftlichen Zustände nicht die min¬
deste Anfechtung erlitten hätte, als ob eS nur die Verbrecher wären,
welche sich gegen die bestehende Gesellschaft und ihre Ordnung empö¬
ren, als ob nicht eine tief einschneidende und immer weiter fressende
theoretische Kritik längst dieses absolut Gute und Vernünftige oder
Gesunde oder wie man es nennen mag, wankend gemacht hätte. Es
ist ja nun einmal kein Geheimniß mehr, seit die geistigen Mächte un¬
serer Vergangenheit von der Philosophie und geschichtlichen Kritik, die
socialen von den socialistischen Kritikern unterwühlt worden, seit in
fast schon zahllosen Werken die kühnsten Angriffe aus das Eigenthum,
die Heiligkeit der Familie und alle anderen Stützen der Gesellschaft


Erziehung liegt der Gegensatz von Gutem und Bösem als festen Be¬
stimmungen des menschlichen Wesens zu Grunde, der Mensch soll durch
die Allwendung der Zuchtmittel vom Bösen zum Guten gebracht wer¬
den, man behandelt ihn wie ein Kind. Das Gute ist hier im Allge¬
meinen das, was der Gesellschaft dient, Jeder soll ein „nützliches"
Glied der Gesellschaft sein, das Böse ist das, was die Gesellschaft ge¬
fährdet, der Verbrecher ist ein schädliches Glied der Gesellschaft. Denkt
man sich nun den gesellschaftlichen Zustand, wie er besteht, als den
unbezweifelbar vortrefflichen, guten, heiligen, so stellt sich die Aufleh¬
nung des Einzelnen gegen denselben allerdings als eine Krankheits¬
erscheinung, als eine Verrücktheit dar, und man kann es sich zur Auf¬
gabe machen, den moralischen Schaden des Einzelnen wo möglich in
der Wurzel zu vertilgen und das Uebel zu heilen. Naturen, die in
diesem Sinne heilbar sein sollen, müßten solche sein, welche sich dem
vorausgesetzten guten und heilsamen Zustande der Gesellschaft nur aus
Unwissenheit oder Schwachheit und Verirrung nicht haben einfügen
wollen. In solchen idealen Voraussetzungen von einem absolut guten
Zustande der Gesellschaft, von einer Krankhaftigkeit und Heilbarkeit
deö Willens, der steh gegen diesen Zustand auflehnt, bewegt sich das
philanthropische Besserungösystem; so sehr es vorgibt, vorzugsweise
praktisch zu kein, ist es doch ganz in einer geträumten Welt befangen,
und die Gewalt und Herabwürdigung, welche es erwachsenen Personen
mit seiner Schulkinderzuchtmethode anthut, möchte unter Umständen
kaum eine geringere Barbarei in sich schließen, als das raffinirte Mar¬
tersystem der einsamen Einsperrung, die fürchterlichste Ausgeburt des
modernen Spiritualismus, der sich über die Folterkammern und Schei¬
terhaufen des Mittelalters Wunder wie hoch erhaben dünkt. Die
Philanthropen vom reinen Wasser, wie Appert, thun noch immer, als
ob die absolute Gültigkeit der gesellschaftlichen Zustände nicht die min¬
deste Anfechtung erlitten hätte, als ob eS nur die Verbrecher wären,
welche sich gegen die bestehende Gesellschaft und ihre Ordnung empö¬
ren, als ob nicht eine tief einschneidende und immer weiter fressende
theoretische Kritik längst dieses absolut Gute und Vernünftige oder
Gesunde oder wie man es nennen mag, wankend gemacht hätte. Es
ist ja nun einmal kein Geheimniß mehr, seit die geistigen Mächte un¬
serer Vergangenheit von der Philosophie und geschichtlichen Kritik, die
socialen von den socialistischen Kritikern unterwühlt worden, seit in
fast schon zahllosen Werken die kühnsten Angriffe aus das Eigenthum,
die Heiligkeit der Familie und alle anderen Stützen der Gesellschaft


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[0171] Erziehung liegt der Gegensatz von Gutem und Bösem als festen Be¬ stimmungen des menschlichen Wesens zu Grunde, der Mensch soll durch die Allwendung der Zuchtmittel vom Bösen zum Guten gebracht wer¬ den, man behandelt ihn wie ein Kind. Das Gute ist hier im Allge¬ meinen das, was der Gesellschaft dient, Jeder soll ein „nützliches" Glied der Gesellschaft sein, das Böse ist das, was die Gesellschaft ge¬ fährdet, der Verbrecher ist ein schädliches Glied der Gesellschaft. Denkt man sich nun den gesellschaftlichen Zustand, wie er besteht, als den unbezweifelbar vortrefflichen, guten, heiligen, so stellt sich die Aufleh¬ nung des Einzelnen gegen denselben allerdings als eine Krankheits¬ erscheinung, als eine Verrücktheit dar, und man kann es sich zur Auf¬ gabe machen, den moralischen Schaden des Einzelnen wo möglich in der Wurzel zu vertilgen und das Uebel zu heilen. Naturen, die in diesem Sinne heilbar sein sollen, müßten solche sein, welche sich dem vorausgesetzten guten und heilsamen Zustande der Gesellschaft nur aus Unwissenheit oder Schwachheit und Verirrung nicht haben einfügen wollen. In solchen idealen Voraussetzungen von einem absolut guten Zustande der Gesellschaft, von einer Krankhaftigkeit und Heilbarkeit deö Willens, der steh gegen diesen Zustand auflehnt, bewegt sich das philanthropische Besserungösystem; so sehr es vorgibt, vorzugsweise praktisch zu kein, ist es doch ganz in einer geträumten Welt befangen, und die Gewalt und Herabwürdigung, welche es erwachsenen Personen mit seiner Schulkinderzuchtmethode anthut, möchte unter Umständen kaum eine geringere Barbarei in sich schließen, als das raffinirte Mar¬ tersystem der einsamen Einsperrung, die fürchterlichste Ausgeburt des modernen Spiritualismus, der sich über die Folterkammern und Schei¬ terhaufen des Mittelalters Wunder wie hoch erhaben dünkt. Die Philanthropen vom reinen Wasser, wie Appert, thun noch immer, als ob die absolute Gültigkeit der gesellschaftlichen Zustände nicht die min¬ deste Anfechtung erlitten hätte, als ob eS nur die Verbrecher wären, welche sich gegen die bestehende Gesellschaft und ihre Ordnung empö¬ ren, als ob nicht eine tief einschneidende und immer weiter fressende theoretische Kritik längst dieses absolut Gute und Vernünftige oder Gesunde oder wie man es nennen mag, wankend gemacht hätte. Es ist ja nun einmal kein Geheimniß mehr, seit die geistigen Mächte un¬ serer Vergangenheit von der Philosophie und geschichtlichen Kritik, die socialen von den socialistischen Kritikern unterwühlt worden, seit in fast schon zahllosen Werken die kühnsten Angriffe aus das Eigenthum, die Heiligkeit der Familie und alle anderen Stützen der Gesellschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/171>, abgerufen am 23.04.2024.