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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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in die Lage, möglichst viel für sein Geld haben zu wollen, obgleich er sich doch
heimlich gesteht, daß so ein Concert, das seine zwei bis drei Stunden dauert, die
Reizung zum Kinnbackenkrampf in ihm hervorruft; seine Glieder werden matt, die
Angen fallen zu; der Kellner bringt eine Weiße nach der andern, aber das Con¬
cert will noch immer nicht enden. Es kostet Opfer, ein gebildeter Mann zu sein.
Anders wirkt das Concert aus die Tochter des Bourgeois, die in bürgerlichem
Ballstaat den Augenblick ersehnt, wo der Dirigent das Eude des Concerts ver¬
kündet, die Musiker ihre Notenbücher zumachen, die Kellner Tische und Stühle
über die Seite bringen, und der Tanzmeister sich in die Mitte des Saales stellt;
jetzt scheint sich der Saal erst zu füllen, namentlich sind es die Lions dieser Kreise,
die man erst jetzt erblickt; ihre jugendliche Kraft widersteht der Lockung der Musen,
uur der Tervsichove nicht, die sie bis zum erwachenden Morgen wirbelnd umher-
treibt; dann schleichen sie, Liebesgram und Eifersucht im Herzen, Müdigkeit in
den Gliedern, zum Ladentisch, der sie erwartet.

Es liegt in der übermäßigen Beschäftigung mit irgend einer Kunst stets die
Gefahr, ihren innern Gehalt gegen das Interesse an der äußern Mannigfaltigkeit
und Technik auszugehen; man konnte aus diesem Grunde die große Theilnahme,
die Berlin für alles Musikalische zeigt, bedenklich finden. Die gemüthliche, die poetische
Weise, sich zur Musik zu verhalten, hatte in den gebildeten Kreisen Berlin's längst
aufgehört und wird in Folge der Bezirkscvncerte auch dort aufhören, wo sie viel¬
leicht noch durch die Gunst des ruhigen Stilllebens sich erhalten hatte. Doch
vertritt Berlin, im Ganzen genommen, noch immer mit am meisten die geistige
Seite der Musik. Man erkennt dies, wenn man es mit Wien zusammenstellt.
Die Liederfabrikate, die heutzutage von Wien aus in die Oeffentlichkeit kommen,
sind ihrer großen Mehrzahl nach eben so unverständig, als ganz oberflächlich em¬
pfunden; in Berlin würde es solchen Kompositionen, wie sie in Wien erscheinen,
unmöglich sein, einen Verleger zu finden. Was hier erscheint, dringt nicht nur
viel tiefer in den inner" Gehalt des Gedichtes 'ein, sondern es hat auch der
Berliner Componist ein weit reichere Anschauung der technischen äußern Mittel,
eine bestimmte Empfindung musikalisch auszudrücken; wenn er anch einem gewissen
Beigeschmack überspannter Blasirtheit, überreizter Weichlichkeit schwer entgeht.
Aehnlich stellt sich die Parallele zwischen Berlin und Wien, wenn man auf die
Aufnahme sieht, die berühmte Künstler in beiden Städten gesunden haben. Meyer¬
beer gibt aller Welt etwas,, deuen sowohl, die dramatischen Ausdruck, als denen,
die interessante Aeußerlichkeiten verlangen; darum hat er sowohl in Wien als in
Berlin sein Publicum gefunden; daß er in Berlin gegenwärtig an Terrain ver¬
loren hat, liegt theils in dem Widerwillen, den man gegen sein in jeder Be¬
ziehung ontrirtes, aus der Blasirtheit der Zeit hervorgegangenes Treiben zu em¬
pfinden beginnt, also in einer Reaction der geistigen Mächte gegen die Sinnlichkeit
einerseits und den kalten Verstand andererseits, theils in dem neidischen Charakter


, Grenzvoten. III- 1830. 38

in die Lage, möglichst viel für sein Geld haben zu wollen, obgleich er sich doch
heimlich gesteht, daß so ein Concert, das seine zwei bis drei Stunden dauert, die
Reizung zum Kinnbackenkrampf in ihm hervorruft; seine Glieder werden matt, die
Angen fallen zu; der Kellner bringt eine Weiße nach der andern, aber das Con¬
cert will noch immer nicht enden. Es kostet Opfer, ein gebildeter Mann zu sein.
Anders wirkt das Concert aus die Tochter des Bourgeois, die in bürgerlichem
Ballstaat den Augenblick ersehnt, wo der Dirigent das Eude des Concerts ver¬
kündet, die Musiker ihre Notenbücher zumachen, die Kellner Tische und Stühle
über die Seite bringen, und der Tanzmeister sich in die Mitte des Saales stellt;
jetzt scheint sich der Saal erst zu füllen, namentlich sind es die Lions dieser Kreise,
die man erst jetzt erblickt; ihre jugendliche Kraft widersteht der Lockung der Musen,
uur der Tervsichove nicht, die sie bis zum erwachenden Morgen wirbelnd umher-
treibt; dann schleichen sie, Liebesgram und Eifersucht im Herzen, Müdigkeit in
den Gliedern, zum Ladentisch, der sie erwartet.

Es liegt in der übermäßigen Beschäftigung mit irgend einer Kunst stets die
Gefahr, ihren innern Gehalt gegen das Interesse an der äußern Mannigfaltigkeit
und Technik auszugehen; man konnte aus diesem Grunde die große Theilnahme,
die Berlin für alles Musikalische zeigt, bedenklich finden. Die gemüthliche, die poetische
Weise, sich zur Musik zu verhalten, hatte in den gebildeten Kreisen Berlin's längst
aufgehört und wird in Folge der Bezirkscvncerte auch dort aufhören, wo sie viel¬
leicht noch durch die Gunst des ruhigen Stilllebens sich erhalten hatte. Doch
vertritt Berlin, im Ganzen genommen, noch immer mit am meisten die geistige
Seite der Musik. Man erkennt dies, wenn man es mit Wien zusammenstellt.
Die Liederfabrikate, die heutzutage von Wien aus in die Oeffentlichkeit kommen,
sind ihrer großen Mehrzahl nach eben so unverständig, als ganz oberflächlich em¬
pfunden; in Berlin würde es solchen Kompositionen, wie sie in Wien erscheinen,
unmöglich sein, einen Verleger zu finden. Was hier erscheint, dringt nicht nur
viel tiefer in den inner» Gehalt des Gedichtes 'ein, sondern es hat auch der
Berliner Componist ein weit reichere Anschauung der technischen äußern Mittel,
eine bestimmte Empfindung musikalisch auszudrücken; wenn er anch einem gewissen
Beigeschmack überspannter Blasirtheit, überreizter Weichlichkeit schwer entgeht.
Aehnlich stellt sich die Parallele zwischen Berlin und Wien, wenn man auf die
Aufnahme sieht, die berühmte Künstler in beiden Städten gesunden haben. Meyer¬
beer gibt aller Welt etwas,, deuen sowohl, die dramatischen Ausdruck, als denen,
die interessante Aeußerlichkeiten verlangen; darum hat er sowohl in Wien als in
Berlin sein Publicum gefunden; daß er in Berlin gegenwärtig an Terrain ver¬
loren hat, liegt theils in dem Widerwillen, den man gegen sein in jeder Be¬
ziehung ontrirtes, aus der Blasirtheit der Zeit hervorgegangenes Treiben zu em¬
pfinden beginnt, also in einer Reaction der geistigen Mächte gegen die Sinnlichkeit
einerseits und den kalten Verstand andererseits, theils in dem neidischen Charakter


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[0305] in die Lage, möglichst viel für sein Geld haben zu wollen, obgleich er sich doch heimlich gesteht, daß so ein Concert, das seine zwei bis drei Stunden dauert, die Reizung zum Kinnbackenkrampf in ihm hervorruft; seine Glieder werden matt, die Angen fallen zu; der Kellner bringt eine Weiße nach der andern, aber das Con¬ cert will noch immer nicht enden. Es kostet Opfer, ein gebildeter Mann zu sein. Anders wirkt das Concert aus die Tochter des Bourgeois, die in bürgerlichem Ballstaat den Augenblick ersehnt, wo der Dirigent das Eude des Concerts ver¬ kündet, die Musiker ihre Notenbücher zumachen, die Kellner Tische und Stühle über die Seite bringen, und der Tanzmeister sich in die Mitte des Saales stellt; jetzt scheint sich der Saal erst zu füllen, namentlich sind es die Lions dieser Kreise, die man erst jetzt erblickt; ihre jugendliche Kraft widersteht der Lockung der Musen, uur der Tervsichove nicht, die sie bis zum erwachenden Morgen wirbelnd umher- treibt; dann schleichen sie, Liebesgram und Eifersucht im Herzen, Müdigkeit in den Gliedern, zum Ladentisch, der sie erwartet. Es liegt in der übermäßigen Beschäftigung mit irgend einer Kunst stets die Gefahr, ihren innern Gehalt gegen das Interesse an der äußern Mannigfaltigkeit und Technik auszugehen; man konnte aus diesem Grunde die große Theilnahme, die Berlin für alles Musikalische zeigt, bedenklich finden. Die gemüthliche, die poetische Weise, sich zur Musik zu verhalten, hatte in den gebildeten Kreisen Berlin's längst aufgehört und wird in Folge der Bezirkscvncerte auch dort aufhören, wo sie viel¬ leicht noch durch die Gunst des ruhigen Stilllebens sich erhalten hatte. Doch vertritt Berlin, im Ganzen genommen, noch immer mit am meisten die geistige Seite der Musik. Man erkennt dies, wenn man es mit Wien zusammenstellt. Die Liederfabrikate, die heutzutage von Wien aus in die Oeffentlichkeit kommen, sind ihrer großen Mehrzahl nach eben so unverständig, als ganz oberflächlich em¬ pfunden; in Berlin würde es solchen Kompositionen, wie sie in Wien erscheinen, unmöglich sein, einen Verleger zu finden. Was hier erscheint, dringt nicht nur viel tiefer in den inner» Gehalt des Gedichtes 'ein, sondern es hat auch der Berliner Componist ein weit reichere Anschauung der technischen äußern Mittel, eine bestimmte Empfindung musikalisch auszudrücken; wenn er anch einem gewissen Beigeschmack überspannter Blasirtheit, überreizter Weichlichkeit schwer entgeht. Aehnlich stellt sich die Parallele zwischen Berlin und Wien, wenn man auf die Aufnahme sieht, die berühmte Künstler in beiden Städten gesunden haben. Meyer¬ beer gibt aller Welt etwas,, deuen sowohl, die dramatischen Ausdruck, als denen, die interessante Aeußerlichkeiten verlangen; darum hat er sowohl in Wien als in Berlin sein Publicum gefunden; daß er in Berlin gegenwärtig an Terrain ver¬ loren hat, liegt theils in dem Widerwillen, den man gegen sein in jeder Be¬ ziehung ontrirtes, aus der Blasirtheit der Zeit hervorgegangenes Treiben zu em¬ pfinden beginnt, also in einer Reaction der geistigen Mächte gegen die Sinnlichkeit einerseits und den kalten Verstand andererseits, theils in dem neidischen Charakter , Grenzvoten. III- 1830. 38

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/305>, abgerufen am 25.04.2024.