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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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in allen Collisionsfällen unerweisbar ist, man müßte denn die Widerstandslosigkeit ans
jeden Eroberer, jeden Prätendenten, zuletzt jeden Räuberhauptmann ausdehnen.
Die Legitimisten haben zwar die Grade der Legitimität --^ die nähere und ent¬
ferntere Verwandtschaft mit Gottes Gnaden -- zu einer Art Kasuistik ausgear¬
beitet, z. B. im Berliner politischen Wochenblatte, aber alle Casuistik verlangt
Beichtväter, und diese sind in'unserem politischen Leben noch nicht eingeführt. --
Die Legitimisten sollen bedenken, daß in der Zeit/ welche ihnen die theuerste ist,
dem Mittelalter, die Jnsurrection in vielen Fällen ein in den Gesetzen vorgesehe¬
nes Rechtsmittel gegen Uebergriffe der Obrigkeit war. -- Nicht der bewaffnete
Widerstand gegen die Obrigkeit ist das Kennzeichen der Revolution, sondern das
Unorganische, Formlose desselben: der Unabhängigkeitskrieg Nordamerikas,
Schleswig-Holsteins, Ungarns, sind keine Revolutionen.

Der Begriff der Revolution findet auch uicht in der Idee der Volks-
souveränetät seine tiefere Begründung, denn diese ist nur ein ungeschickter Aus-
druck für einen Jdeeuwcchsel, der die neue Zeit wesentlich vom Mittelalter und
der alten Geschichte scheidet. Alle die andern Phänomene der Revolution, die
ich bisher besprochen habe, sind auch sonst vorgekommen, man hat auch sonst im Namen
des Volks die Fahne des Aufstands aufgepflanzt; alles das macht aber noch uicht
jene geistige "Umwälzung" aus, die wir seit 1849 theils hoffen, theils fürchten.
Das charakteristische Kennzeichen der Revolution im modernen Sinne ist der sich in
ihr Luft machende Idealismus.

In frühem Zeiten hatte jeder Aufstand, wenn es uicht lediglich ein blinder
Tumult war, einen bestimmten, endlichen, egoistischen Zweck. Es war nicht
eben die heilige Scheu vor der Obrigkeit von Gottes Gnaden, ans der die Be¬
dingtheit der Forderungen hervorging, sondern der plastische Sinn einer naiven Zeit,
der uoch uicht daran gewohnt war, sich in unbestimmten Abstractionen zu bewe¬
gen. So hatte in der römischen Geschichte jeder Aufstand sein genan umschrie¬
benes Ziel; so waren noch im 16. Jahrhundert die bekannten Forderungen, welche
die Bauern auf die Fahne ihrer Empörung schrieben, von ihrem eigenen, naiven
Standpunkt aufgefaßt und sehr bestimmt formulirt. In neuerer Zeit dagegen
fordert mau uicht für sich, sondern für die Menschheit, man geht von einem Ideal
des Menschen,, demnach einem Ideal der Gesellschaft aus, und dieses Ideal will
man der bestehenden Gesellschaft substituiren. Die Volkssouveränetät, die mau
hinterher anführt, ist nur eine Redensart, sich zu legitimiren; der wahre Revo¬
lutionär, ein Marat oder ein Socialist, fragt nicht erst beim Volke an, er trägt
die Gewißheit seines Princips in der eigenen Seele, und wird nötigenfalls die
Majorität des Volks ausrotte", wenn sie seinen Glauben uicht theilt, denn der
Unglaube ist ein Verbrechen.

Diese Art des Glaubens ist nur in ihrer Richtung auf die Politik
etwas Neues, uicht in ihrem Wesen. Sic ist die moderne Form des re-


in allen Collisionsfällen unerweisbar ist, man müßte denn die Widerstandslosigkeit ans
jeden Eroberer, jeden Prätendenten, zuletzt jeden Räuberhauptmann ausdehnen.
Die Legitimisten haben zwar die Grade der Legitimität —^ die nähere und ent¬
ferntere Verwandtschaft mit Gottes Gnaden — zu einer Art Kasuistik ausgear¬
beitet, z. B. im Berliner politischen Wochenblatte, aber alle Casuistik verlangt
Beichtväter, und diese sind in'unserem politischen Leben noch nicht eingeführt. —
Die Legitimisten sollen bedenken, daß in der Zeit/ welche ihnen die theuerste ist,
dem Mittelalter, die Jnsurrection in vielen Fällen ein in den Gesetzen vorgesehe¬
nes Rechtsmittel gegen Uebergriffe der Obrigkeit war. — Nicht der bewaffnete
Widerstand gegen die Obrigkeit ist das Kennzeichen der Revolution, sondern das
Unorganische, Formlose desselben: der Unabhängigkeitskrieg Nordamerikas,
Schleswig-Holsteins, Ungarns, sind keine Revolutionen.

Der Begriff der Revolution findet auch uicht in der Idee der Volks-
souveränetät seine tiefere Begründung, denn diese ist nur ein ungeschickter Aus-
druck für einen Jdeeuwcchsel, der die neue Zeit wesentlich vom Mittelalter und
der alten Geschichte scheidet. Alle die andern Phänomene der Revolution, die
ich bisher besprochen habe, sind auch sonst vorgekommen, man hat auch sonst im Namen
des Volks die Fahne des Aufstands aufgepflanzt; alles das macht aber noch uicht
jene geistige „Umwälzung" aus, die wir seit 1849 theils hoffen, theils fürchten.
Das charakteristische Kennzeichen der Revolution im modernen Sinne ist der sich in
ihr Luft machende Idealismus.

In frühem Zeiten hatte jeder Aufstand, wenn es uicht lediglich ein blinder
Tumult war, einen bestimmten, endlichen, egoistischen Zweck. Es war nicht
eben die heilige Scheu vor der Obrigkeit von Gottes Gnaden, ans der die Be¬
dingtheit der Forderungen hervorging, sondern der plastische Sinn einer naiven Zeit,
der uoch uicht daran gewohnt war, sich in unbestimmten Abstractionen zu bewe¬
gen. So hatte in der römischen Geschichte jeder Aufstand sein genan umschrie¬
benes Ziel; so waren noch im 16. Jahrhundert die bekannten Forderungen, welche
die Bauern auf die Fahne ihrer Empörung schrieben, von ihrem eigenen, naiven
Standpunkt aufgefaßt und sehr bestimmt formulirt. In neuerer Zeit dagegen
fordert mau uicht für sich, sondern für die Menschheit, man geht von einem Ideal
des Menschen,, demnach einem Ideal der Gesellschaft aus, und dieses Ideal will
man der bestehenden Gesellschaft substituiren. Die Volkssouveränetät, die mau
hinterher anführt, ist nur eine Redensart, sich zu legitimiren; der wahre Revo¬
lutionär, ein Marat oder ein Socialist, fragt nicht erst beim Volke an, er trägt
die Gewißheit seines Princips in der eigenen Seele, und wird nötigenfalls die
Majorität des Volks ausrotte», wenn sie seinen Glauben uicht theilt, denn der
Unglaube ist ein Verbrechen.

Diese Art des Glaubens ist nur in ihrer Richtung auf die Politik
etwas Neues, uicht in ihrem Wesen. Sic ist die moderne Form des re-


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[0336] in allen Collisionsfällen unerweisbar ist, man müßte denn die Widerstandslosigkeit ans jeden Eroberer, jeden Prätendenten, zuletzt jeden Räuberhauptmann ausdehnen. Die Legitimisten haben zwar die Grade der Legitimität —^ die nähere und ent¬ ferntere Verwandtschaft mit Gottes Gnaden — zu einer Art Kasuistik ausgear¬ beitet, z. B. im Berliner politischen Wochenblatte, aber alle Casuistik verlangt Beichtväter, und diese sind in'unserem politischen Leben noch nicht eingeführt. — Die Legitimisten sollen bedenken, daß in der Zeit/ welche ihnen die theuerste ist, dem Mittelalter, die Jnsurrection in vielen Fällen ein in den Gesetzen vorgesehe¬ nes Rechtsmittel gegen Uebergriffe der Obrigkeit war. — Nicht der bewaffnete Widerstand gegen die Obrigkeit ist das Kennzeichen der Revolution, sondern das Unorganische, Formlose desselben: der Unabhängigkeitskrieg Nordamerikas, Schleswig-Holsteins, Ungarns, sind keine Revolutionen. Der Begriff der Revolution findet auch uicht in der Idee der Volks- souveränetät seine tiefere Begründung, denn diese ist nur ein ungeschickter Aus- druck für einen Jdeeuwcchsel, der die neue Zeit wesentlich vom Mittelalter und der alten Geschichte scheidet. Alle die andern Phänomene der Revolution, die ich bisher besprochen habe, sind auch sonst vorgekommen, man hat auch sonst im Namen des Volks die Fahne des Aufstands aufgepflanzt; alles das macht aber noch uicht jene geistige „Umwälzung" aus, die wir seit 1849 theils hoffen, theils fürchten. Das charakteristische Kennzeichen der Revolution im modernen Sinne ist der sich in ihr Luft machende Idealismus. In frühem Zeiten hatte jeder Aufstand, wenn es uicht lediglich ein blinder Tumult war, einen bestimmten, endlichen, egoistischen Zweck. Es war nicht eben die heilige Scheu vor der Obrigkeit von Gottes Gnaden, ans der die Be¬ dingtheit der Forderungen hervorging, sondern der plastische Sinn einer naiven Zeit, der uoch uicht daran gewohnt war, sich in unbestimmten Abstractionen zu bewe¬ gen. So hatte in der römischen Geschichte jeder Aufstand sein genan umschrie¬ benes Ziel; so waren noch im 16. Jahrhundert die bekannten Forderungen, welche die Bauern auf die Fahne ihrer Empörung schrieben, von ihrem eigenen, naiven Standpunkt aufgefaßt und sehr bestimmt formulirt. In neuerer Zeit dagegen fordert mau uicht für sich, sondern für die Menschheit, man geht von einem Ideal des Menschen,, demnach einem Ideal der Gesellschaft aus, und dieses Ideal will man der bestehenden Gesellschaft substituiren. Die Volkssouveränetät, die mau hinterher anführt, ist nur eine Redensart, sich zu legitimiren; der wahre Revo¬ lutionär, ein Marat oder ein Socialist, fragt nicht erst beim Volke an, er trägt die Gewißheit seines Princips in der eigenen Seele, und wird nötigenfalls die Majorität des Volks ausrotte», wenn sie seinen Glauben uicht theilt, denn der Unglaube ist ein Verbrechen. Diese Art des Glaubens ist nur in ihrer Richtung auf die Politik etwas Neues, uicht in ihrem Wesen. Sic ist die moderne Form des re-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/336>, abgerufen am 29.03.2024.