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Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band.

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warfen in der Waadt ein gefährliches Schisma in die Kirche und entmuthigten
die besten Kräfte, die edelsten Männer.

Indessen besitzt Genf immerhin in seiner ganzen Vergangenheit, in der
Menge seiner Anstalten für Wissenschaft, Kunst, Veredlung der menschlichen
Verhältnisse, seinen großartigen Wohlthätigkeits- und Besserungsanstalten, in
der außerordentlichen Thätigkeit, Sparsamkeit und dem kirchlichfrommen Sinne
des Kerns seiner Bürgerschaft einen nicht so leicht zu verwüstenden Fond von
gesunder Kraft und eine Garantie seines Fortblühens. Die Opposition, in
die es unter seiner extremen Regierung gegen die übrige freisinnige Schweiz
getreten ist, namentlich hinsichtlich der Zölle, der Universität, des Maßes und
Gewichtes u. f. w. wird es, wenn es sein Gleichgewicht wiedergefunden hat,
von selbst aufgeben."

Von Bern spricht der Verfasser weniger günstig. Er sagt: "Es gibt
hier ein verhältnißmäßig überzahlreiches Proletariat, das nicht, wie an
anderen Orten, durch starken Handelsverkehr und Jndustrieetablissements
einen sichern Erwerb und eine stetige Beschäftigung findet, sondern sein Brot
mehr zufällig und auf allerlei krummen Wegen gewinnt. Diese Classe ist
sehr roh, sehr verwahrlost und der Polizei weit über den Kopf gewachsen.
Die Prostitution hat nirgends in der Schweiz, selbst in Genf nicht, einen
Umfang erreicht, wie in der Bundesstadt. Der große Mittelstand ist zwar von
ehrenwerthen Schlage, aber nicht sehr betriebsam und intelligent. Er hat da¬
zu eine viel zu bequeme Existenz. Du mußt nämlich wissen, daß Bern ein
ungeheures städtisches Corporationsvermögen besitzt, ein Gemeindegut, das
sich über vierzig Millionen belaufen soll, deren Renten theilweise in ver¬
schiedenen Gestalten den guten "Bürgern" mühelos in die Taschen fließen.
Ich habe überall gesunden, daß große Gemeindegüter den Antheilhabern weit
mehr zum Nachtheil als zum Vortheil gereichen und daß die Vorväter, welche
diese Fonds zusammengespart haben, am allerschlechtesten für ihre Enkel ge¬
sorgt haben. Die reichere Bürgerclasse hat in Bern in neuerer Zeit auch grade
keine Verdienste um die Hebung der Stadt nach irgend einer Seite hin. Nirgends
in der Schweiz lebt sie mehr kastenmäßig abgeschlossen und fällt die rauw KnanLe
mit der Geburtsaristokratie immer mehr zusammen. Das hiesige Patriziat kennt
Zwar guten Ton und feine Sitte, hat aber wenig wissenschaftliche oder literarische
Bildung und ist auch den Fremden beinahe unzugänglich. In eng abgegrenz¬
ten Coterien bewegen sich die vornehmen Familien schwerfällig in einem kleinen
Zirkel von traditionellen socialen und politischen Begriffen. Es ist mit ge¬
nügen Ausnahmen kein frischer Geist, keine gesunde Bildung, keine humane
Tendenz in diesen alten Familien mehr; der thatenreiche, kühne und kräftige
Sinn der edlen Ahnen ist von dem Geschlechte gewichen, das sich nur noch
mit dem sauer erworbenen Namen und Vermögen derselben zu spreizen versteht.


Grenzboten II. 1857. 50

warfen in der Waadt ein gefährliches Schisma in die Kirche und entmuthigten
die besten Kräfte, die edelsten Männer.

Indessen besitzt Genf immerhin in seiner ganzen Vergangenheit, in der
Menge seiner Anstalten für Wissenschaft, Kunst, Veredlung der menschlichen
Verhältnisse, seinen großartigen Wohlthätigkeits- und Besserungsanstalten, in
der außerordentlichen Thätigkeit, Sparsamkeit und dem kirchlichfrommen Sinne
des Kerns seiner Bürgerschaft einen nicht so leicht zu verwüstenden Fond von
gesunder Kraft und eine Garantie seines Fortblühens. Die Opposition, in
die es unter seiner extremen Regierung gegen die übrige freisinnige Schweiz
getreten ist, namentlich hinsichtlich der Zölle, der Universität, des Maßes und
Gewichtes u. f. w. wird es, wenn es sein Gleichgewicht wiedergefunden hat,
von selbst aufgeben."

Von Bern spricht der Verfasser weniger günstig. Er sagt: „Es gibt
hier ein verhältnißmäßig überzahlreiches Proletariat, das nicht, wie an
anderen Orten, durch starken Handelsverkehr und Jndustrieetablissements
einen sichern Erwerb und eine stetige Beschäftigung findet, sondern sein Brot
mehr zufällig und auf allerlei krummen Wegen gewinnt. Diese Classe ist
sehr roh, sehr verwahrlost und der Polizei weit über den Kopf gewachsen.
Die Prostitution hat nirgends in der Schweiz, selbst in Genf nicht, einen
Umfang erreicht, wie in der Bundesstadt. Der große Mittelstand ist zwar von
ehrenwerthen Schlage, aber nicht sehr betriebsam und intelligent. Er hat da¬
zu eine viel zu bequeme Existenz. Du mußt nämlich wissen, daß Bern ein
ungeheures städtisches Corporationsvermögen besitzt, ein Gemeindegut, das
sich über vierzig Millionen belaufen soll, deren Renten theilweise in ver¬
schiedenen Gestalten den guten „Bürgern" mühelos in die Taschen fließen.
Ich habe überall gesunden, daß große Gemeindegüter den Antheilhabern weit
mehr zum Nachtheil als zum Vortheil gereichen und daß die Vorväter, welche
diese Fonds zusammengespart haben, am allerschlechtesten für ihre Enkel ge¬
sorgt haben. Die reichere Bürgerclasse hat in Bern in neuerer Zeit auch grade
keine Verdienste um die Hebung der Stadt nach irgend einer Seite hin. Nirgends
in der Schweiz lebt sie mehr kastenmäßig abgeschlossen und fällt die rauw KnanLe
mit der Geburtsaristokratie immer mehr zusammen. Das hiesige Patriziat kennt
Zwar guten Ton und feine Sitte, hat aber wenig wissenschaftliche oder literarische
Bildung und ist auch den Fremden beinahe unzugänglich. In eng abgegrenz¬
ten Coterien bewegen sich die vornehmen Familien schwerfällig in einem kleinen
Zirkel von traditionellen socialen und politischen Begriffen. Es ist mit ge¬
nügen Ausnahmen kein frischer Geist, keine gesunde Bildung, keine humane
Tendenz in diesen alten Familien mehr; der thatenreiche, kühne und kräftige
Sinn der edlen Ahnen ist von dem Geschlechte gewichen, das sich nur noch
mit dem sauer erworbenen Namen und Vermögen derselben zu spreizen versteht.


Grenzboten II. 1857. 50
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[0401] warfen in der Waadt ein gefährliches Schisma in die Kirche und entmuthigten die besten Kräfte, die edelsten Männer. Indessen besitzt Genf immerhin in seiner ganzen Vergangenheit, in der Menge seiner Anstalten für Wissenschaft, Kunst, Veredlung der menschlichen Verhältnisse, seinen großartigen Wohlthätigkeits- und Besserungsanstalten, in der außerordentlichen Thätigkeit, Sparsamkeit und dem kirchlichfrommen Sinne des Kerns seiner Bürgerschaft einen nicht so leicht zu verwüstenden Fond von gesunder Kraft und eine Garantie seines Fortblühens. Die Opposition, in die es unter seiner extremen Regierung gegen die übrige freisinnige Schweiz getreten ist, namentlich hinsichtlich der Zölle, der Universität, des Maßes und Gewichtes u. f. w. wird es, wenn es sein Gleichgewicht wiedergefunden hat, von selbst aufgeben." Von Bern spricht der Verfasser weniger günstig. Er sagt: „Es gibt hier ein verhältnißmäßig überzahlreiches Proletariat, das nicht, wie an anderen Orten, durch starken Handelsverkehr und Jndustrieetablissements einen sichern Erwerb und eine stetige Beschäftigung findet, sondern sein Brot mehr zufällig und auf allerlei krummen Wegen gewinnt. Diese Classe ist sehr roh, sehr verwahrlost und der Polizei weit über den Kopf gewachsen. Die Prostitution hat nirgends in der Schweiz, selbst in Genf nicht, einen Umfang erreicht, wie in der Bundesstadt. Der große Mittelstand ist zwar von ehrenwerthen Schlage, aber nicht sehr betriebsam und intelligent. Er hat da¬ zu eine viel zu bequeme Existenz. Du mußt nämlich wissen, daß Bern ein ungeheures städtisches Corporationsvermögen besitzt, ein Gemeindegut, das sich über vierzig Millionen belaufen soll, deren Renten theilweise in ver¬ schiedenen Gestalten den guten „Bürgern" mühelos in die Taschen fließen. Ich habe überall gesunden, daß große Gemeindegüter den Antheilhabern weit mehr zum Nachtheil als zum Vortheil gereichen und daß die Vorväter, welche diese Fonds zusammengespart haben, am allerschlechtesten für ihre Enkel ge¬ sorgt haben. Die reichere Bürgerclasse hat in Bern in neuerer Zeit auch grade keine Verdienste um die Hebung der Stadt nach irgend einer Seite hin. Nirgends in der Schweiz lebt sie mehr kastenmäßig abgeschlossen und fällt die rauw KnanLe mit der Geburtsaristokratie immer mehr zusammen. Das hiesige Patriziat kennt Zwar guten Ton und feine Sitte, hat aber wenig wissenschaftliche oder literarische Bildung und ist auch den Fremden beinahe unzugänglich. In eng abgegrenz¬ ten Coterien bewegen sich die vornehmen Familien schwerfällig in einem kleinen Zirkel von traditionellen socialen und politischen Begriffen. Es ist mit ge¬ nügen Ausnahmen kein frischer Geist, keine gesunde Bildung, keine humane Tendenz in diesen alten Familien mehr; der thatenreiche, kühne und kräftige Sinn der edlen Ahnen ist von dem Geschlechte gewichen, das sich nur noch mit dem sauer erworbenen Namen und Vermögen derselben zu spreizen versteht. Grenzboten II. 1857. 50

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_103666/401>, abgerufen am 24.04.2024.