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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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land überschattenden Baumes der Erkenntniß erklärte sich feierlich für eine
Art politischer Leibgarde des Herzogs, So hatte die Regierungspartei die Ge¬
nugthuung, schon vor der Opposition auf dem Platze gewesen zu sein. Dar¬
auf werden sich indessen ihre Erfolge in der Wahlcampagne auch wohl be¬
schränken.

Für eine wirkliche Partei im Sinne der augenblicklichen Regierung fehlt
es in Nassau so ziemlich an Allem. Rechnet man einen großen Theil der Geist¬
lichkeit und einen kleinen Theil des Beamtenthums ab, so gibt es keine Be-
Völkerungsclassen, aus denen dieselbe sich recrutiren könnte. Der Adel, aus
dem in frühern Zeiten so erlauchte politische Namen hervorgegangen sind, ist
der Zahl, dem Besitz und der Begabung nach außerordentlich unbedeutend.
Selbst bei Hofe spielen fremde Cavaliere eine Hauptrolle. Die Masse der Be¬
amten ist zu aufgeklärt und gutbürgerlich gesinnt, um im Herzen mit den Trä¬
gern der Reaction zu sympathisiren. Dagegen besitzt das Land ein sehr wohl¬
habendes, fortgeschrittenes, kernhaftcö und politisch begabtes Bürgerthum. Der
Wein des Rheingaus und das Eisen der Lahn und der Dill wachsen dem Nas¬
sauer nicht umsonst in die Hand. Selbst in Wiesbaden ist der Geist der Be¬
völkerung so gesund, daß der doppelte Einfluß des Hofes und des Bades
nichts über ihn vermögen, und die letzte Wahl zur zweiten Kammer einstimmig
auf den charakterfester Führer der Opposition siel. Welche andere Residenz von
ähnlichem Umfang kann das von sich sagen? Die Nassauer sind allerdings von
zu bedächtigem Temperament, als daß sie über Negierungssünden rasch die Ge¬
duld verlören. Sie besitzen am wenigsten von allen mittclrheinischen Deutschen
jenes Talent des unproductiven Naisonnirens, das zumal die Pfälzer, die halb¬
servilen und halbradicalcn Frondeure, so hervorstechend bezeichnet. Aber wenn
sie sich einmal erheben, so geschieht es, um sich nicht vor erreichtem Ziel wie,
der niederzulegen. Und jetzt ist ihnen die Geduld vergangen. Sie sind offen¬
bar entschlossen, der täglichen Verletzung ihrer Interessen und Rechte durch eine
ausgeartete Gewalt ein Ende zu machen.

Was diesen Entschluß unaufhörlich erneuert und befestigt, ist die Gefahr,
>n welcher der Zollverein schwebt. Die nassauische Regierung hat sich für be¬
fugt gehalten, ihren Beitritt zum preußisch-französischen Handelsvertrage ins
Ungewisse zu verschieben. Sie ist also mitschuldig an der durck, die Nicht-
genehmigung dieses Vertrags entstandenen Unsicherheit unsrer volkswirthschaft-
lichen Zukunft; mitschuldig daran, daß uns die unmittelbaren und mittelbaren
Vortheile des Vertrags nicht schon längst zu Gute kommen. Ihr Land aber
kann so wenig jene Unsicherheit der Zukunft ertragen als diese Einbußen der
Gegenwart leicht verschmerzen. Abgesehen von derjenigen Zunahme eines be¬
reichernden Verkehrs, die der Handelsvertrag vermöge seines Tarifs dem ganzen
Zollverein gebracht haben würde, hätte Nassau noch besondern Vortheil gezogen


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land überschattenden Baumes der Erkenntniß erklärte sich feierlich für eine
Art politischer Leibgarde des Herzogs, So hatte die Regierungspartei die Ge¬
nugthuung, schon vor der Opposition auf dem Platze gewesen zu sein. Dar¬
auf werden sich indessen ihre Erfolge in der Wahlcampagne auch wohl be¬
schränken.

Für eine wirkliche Partei im Sinne der augenblicklichen Regierung fehlt
es in Nassau so ziemlich an Allem. Rechnet man einen großen Theil der Geist¬
lichkeit und einen kleinen Theil des Beamtenthums ab, so gibt es keine Be-
Völkerungsclassen, aus denen dieselbe sich recrutiren könnte. Der Adel, aus
dem in frühern Zeiten so erlauchte politische Namen hervorgegangen sind, ist
der Zahl, dem Besitz und der Begabung nach außerordentlich unbedeutend.
Selbst bei Hofe spielen fremde Cavaliere eine Hauptrolle. Die Masse der Be¬
amten ist zu aufgeklärt und gutbürgerlich gesinnt, um im Herzen mit den Trä¬
gern der Reaction zu sympathisiren. Dagegen besitzt das Land ein sehr wohl¬
habendes, fortgeschrittenes, kernhaftcö und politisch begabtes Bürgerthum. Der
Wein des Rheingaus und das Eisen der Lahn und der Dill wachsen dem Nas¬
sauer nicht umsonst in die Hand. Selbst in Wiesbaden ist der Geist der Be¬
völkerung so gesund, daß der doppelte Einfluß des Hofes und des Bades
nichts über ihn vermögen, und die letzte Wahl zur zweiten Kammer einstimmig
auf den charakterfester Führer der Opposition siel. Welche andere Residenz von
ähnlichem Umfang kann das von sich sagen? Die Nassauer sind allerdings von
zu bedächtigem Temperament, als daß sie über Negierungssünden rasch die Ge¬
duld verlören. Sie besitzen am wenigsten von allen mittclrheinischen Deutschen
jenes Talent des unproductiven Naisonnirens, das zumal die Pfälzer, die halb¬
servilen und halbradicalcn Frondeure, so hervorstechend bezeichnet. Aber wenn
sie sich einmal erheben, so geschieht es, um sich nicht vor erreichtem Ziel wie,
der niederzulegen. Und jetzt ist ihnen die Geduld vergangen. Sie sind offen¬
bar entschlossen, der täglichen Verletzung ihrer Interessen und Rechte durch eine
ausgeartete Gewalt ein Ende zu machen.

Was diesen Entschluß unaufhörlich erneuert und befestigt, ist die Gefahr,
>n welcher der Zollverein schwebt. Die nassauische Regierung hat sich für be¬
fugt gehalten, ihren Beitritt zum preußisch-französischen Handelsvertrage ins
Ungewisse zu verschieben. Sie ist also mitschuldig an der durck, die Nicht-
genehmigung dieses Vertrags entstandenen Unsicherheit unsrer volkswirthschaft-
lichen Zukunft; mitschuldig daran, daß uns die unmittelbaren und mittelbaren
Vortheile des Vertrags nicht schon längst zu Gute kommen. Ihr Land aber
kann so wenig jene Unsicherheit der Zukunft ertragen als diese Einbußen der
Gegenwart leicht verschmerzen. Abgesehen von derjenigen Zunahme eines be¬
reichernden Verkehrs, die der Handelsvertrag vermöge seines Tarifs dem ganzen
Zollverein gebracht haben würde, hätte Nassau noch besondern Vortheil gezogen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/451>, abgerufen am 19.04.2024.