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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Künste in der kurzen Spanne Zeit seit unsrer Jugend genommen haben, möchte man
sich doch fragen, ob auf den dürftigen April, der so manche Blüte zum Welken
gebracht und getötet hat, der Sommer nicht zu rasch gefolgt ist. Es schießt alles
zu geil ins Kraut. Wirklich schöne Blüten trägt doch nur das, was gelernt hat,
den Frühlingsstürmen zu trotzen. Das Philistertum ist freilich ein böser Mellau,
der die besten Pflanzen ersticken kann, aber es ist auch der dumpfe Boden, auf
dem das Unkraut gedeiht. Verkümmerten früher lebensvolle Keime unter dem Druck
kleinlicher Verhältnisse, so findet jetzt andres seinen Nährboden in der Urteilslosig¬
keit eines neuen Philistertums. Wie wollen Sie sich anders den Sieg dessen auf
allen Kunstgebieten erklären, was man die Moderne nennt? Der große Haufe
ist gemein, in seiner Gesinnung und in seinem Geschmack. Oder er glaubt in seiner
Geschmacklosigkeit an das, was ihm am eindringlichsten vorgeredet wird. Und auf
welchen Schwingen segelt denn die moderne Kunst? Auf denen der Reklame und
der Koterie. Das sind die großen Blasebälge, mit denen die modernen Geistes¬
helden, die doch nur Heuschreckenflügel zum Fliegen haben, emporgetragen werden
in unserm Zeitalter des Dampff, der die Druckerpressen in Bewegung setzt und die
Menschen in Verkehr bringt. Die Kleinen, und leider auch die Gemeinen, finden
sich zu Haufen zusammen und betäuben die Ohren mit ihrem Flügelschwirren. Die
Stille, in der sich ein Talent bilden konnte, findet sich nicht mehr im Zeitalter der
Öffentlichkeit, und die Charaktere, die sich in dem Geräusch unsrer Welt bilden, werden
schlechte Charaktere. Wo sind heute die bedeutenden Individualitäten? Das Massen¬
geschrei übertäubt sie, und die Masse kann sie nicht vertragen. Was sehen wir in der
Kunst und im Kunsthandwerk? Nur das, was auch der Stümper kann. Plakatstil!
Die dürftigste und elendeste Form der Kunst. Plakatstil an den Litfaßsäulen und
in den Schaufenstern, Plakatstil an Gerät und an Häusern, Plakatstil in den
Bildern, an den Büchern und in den Büchern. Alles gleich! Nichts individuell!
Die Inferiorität hat das Wort, und mit ihr die Gemeinheit. Sie kennen beide
nur die Uniformität, denn nur die Uniformität erlaubt dem Lump, sich neben das
Genie zu stellen, und Steigerung ist nur nach unten erlaubt, in der Gemeinheit.
Wie erklären Sie sich sonst, daß die Unzucht immer frecher ihr Haupt erheben darf,
auf Plataeer so gut wie auf den Bühnen, in Zeitschriften, Büchern und Bildern?
Herrgott, wenn ich der Gesellschaft an den Leib könnte, die jede Cigarettensorte in
den Schaufenstern mit nackten Weibern ankündigen und in Prosa und in Versen mit
und ohne Sentimentalität ihren Cynismus oder ihre Lüsternheit offen als Litteratur
zu Markte tragen darf, bloß weil kein Staatsanwalt eine Handhabe findet oder
vielleicht auch nicht einzuschreiten wagt aus Respekt vor -- einer kleinen Koterie,
die die Presse mit ihrem Geschrei erfüllen würde. Aber das Volksgewissen beginnt
ja, sich zu regen. Diese Lex Heinze, wenn man sie nur so wenden könnte, daß
-- ich wäre ganz für eine Lex Heinze!

Ich bin starr, sagte ich. Sie wollen der Lex Heinze das Wort rede", Sie?
Wo alle vernünftigen Leute, alles, was in Kunst und Wissenschaft einen Namen
hat, aufsteht wie ein Mann und entrüstet Protest erhebt gegen diesen Wahnsinn,
gegen dieses Attentat auf deutsche Geistes- und Gewissensfreiheit? Ist es denn nicht
eine Schändlichkeit, künstlerische Leistungen und meinethalben künstlerische Freiheiten
in die Nachbarschaft von ganz gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen- und Zuhälter-
tum zu bringen? Den Leuten, die ohnehin armselige Philister sind -- Sie sagen
es ja selbst --, zu erzählen, daß Correggio und Rubens schamlose Gesellen ge¬
wesen seien? Ist es denn nicht geradezu absurd, wenn sich die Herren vom
Zentrum erdreisten, über Kunstwerke zu Gericht zu sitzen, nur weil es keine Marien¬
bilder und sonstigen Gegenstände sind, die die Kapläne für Kunst halten? Von
Ihnen hätte ich am wenigsten gedacht, daß Sie das Wohl und das Wehe der
Kunst Polizeikommissaren und strebsamen jungen Staatsanwälten überliefern möchten.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Künste in der kurzen Spanne Zeit seit unsrer Jugend genommen haben, möchte man
sich doch fragen, ob auf den dürftigen April, der so manche Blüte zum Welken
gebracht und getötet hat, der Sommer nicht zu rasch gefolgt ist. Es schießt alles
zu geil ins Kraut. Wirklich schöne Blüten trägt doch nur das, was gelernt hat,
den Frühlingsstürmen zu trotzen. Das Philistertum ist freilich ein böser Mellau,
der die besten Pflanzen ersticken kann, aber es ist auch der dumpfe Boden, auf
dem das Unkraut gedeiht. Verkümmerten früher lebensvolle Keime unter dem Druck
kleinlicher Verhältnisse, so findet jetzt andres seinen Nährboden in der Urteilslosig¬
keit eines neuen Philistertums. Wie wollen Sie sich anders den Sieg dessen auf
allen Kunstgebieten erklären, was man die Moderne nennt? Der große Haufe
ist gemein, in seiner Gesinnung und in seinem Geschmack. Oder er glaubt in seiner
Geschmacklosigkeit an das, was ihm am eindringlichsten vorgeredet wird. Und auf
welchen Schwingen segelt denn die moderne Kunst? Auf denen der Reklame und
der Koterie. Das sind die großen Blasebälge, mit denen die modernen Geistes¬
helden, die doch nur Heuschreckenflügel zum Fliegen haben, emporgetragen werden
in unserm Zeitalter des Dampff, der die Druckerpressen in Bewegung setzt und die
Menschen in Verkehr bringt. Die Kleinen, und leider auch die Gemeinen, finden
sich zu Haufen zusammen und betäuben die Ohren mit ihrem Flügelschwirren. Die
Stille, in der sich ein Talent bilden konnte, findet sich nicht mehr im Zeitalter der
Öffentlichkeit, und die Charaktere, die sich in dem Geräusch unsrer Welt bilden, werden
schlechte Charaktere. Wo sind heute die bedeutenden Individualitäten? Das Massen¬
geschrei übertäubt sie, und die Masse kann sie nicht vertragen. Was sehen wir in der
Kunst und im Kunsthandwerk? Nur das, was auch der Stümper kann. Plakatstil!
Die dürftigste und elendeste Form der Kunst. Plakatstil an den Litfaßsäulen und
in den Schaufenstern, Plakatstil an Gerät und an Häusern, Plakatstil in den
Bildern, an den Büchern und in den Büchern. Alles gleich! Nichts individuell!
Die Inferiorität hat das Wort, und mit ihr die Gemeinheit. Sie kennen beide
nur die Uniformität, denn nur die Uniformität erlaubt dem Lump, sich neben das
Genie zu stellen, und Steigerung ist nur nach unten erlaubt, in der Gemeinheit.
Wie erklären Sie sich sonst, daß die Unzucht immer frecher ihr Haupt erheben darf,
auf Plataeer so gut wie auf den Bühnen, in Zeitschriften, Büchern und Bildern?
Herrgott, wenn ich der Gesellschaft an den Leib könnte, die jede Cigarettensorte in
den Schaufenstern mit nackten Weibern ankündigen und in Prosa und in Versen mit
und ohne Sentimentalität ihren Cynismus oder ihre Lüsternheit offen als Litteratur
zu Markte tragen darf, bloß weil kein Staatsanwalt eine Handhabe findet oder
vielleicht auch nicht einzuschreiten wagt aus Respekt vor — einer kleinen Koterie,
die die Presse mit ihrem Geschrei erfüllen würde. Aber das Volksgewissen beginnt
ja, sich zu regen. Diese Lex Heinze, wenn man sie nur so wenden könnte, daß
— ich wäre ganz für eine Lex Heinze!

Ich bin starr, sagte ich. Sie wollen der Lex Heinze das Wort rede», Sie?
Wo alle vernünftigen Leute, alles, was in Kunst und Wissenschaft einen Namen
hat, aufsteht wie ein Mann und entrüstet Protest erhebt gegen diesen Wahnsinn,
gegen dieses Attentat auf deutsche Geistes- und Gewissensfreiheit? Ist es denn nicht
eine Schändlichkeit, künstlerische Leistungen und meinethalben künstlerische Freiheiten
in die Nachbarschaft von ganz gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen- und Zuhälter-
tum zu bringen? Den Leuten, die ohnehin armselige Philister sind — Sie sagen
es ja selbst —, zu erzählen, daß Correggio und Rubens schamlose Gesellen ge¬
wesen seien? Ist es denn nicht geradezu absurd, wenn sich die Herren vom
Zentrum erdreisten, über Kunstwerke zu Gericht zu sitzen, nur weil es keine Marien¬
bilder und sonstigen Gegenstände sind, die die Kapläne für Kunst halten? Von
Ihnen hätte ich am wenigsten gedacht, daß Sie das Wohl und das Wehe der
Kunst Polizeikommissaren und strebsamen jungen Staatsanwälten überliefern möchten.


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[0220] Maßgebliches und Unmaßgebliches Künste in der kurzen Spanne Zeit seit unsrer Jugend genommen haben, möchte man sich doch fragen, ob auf den dürftigen April, der so manche Blüte zum Welken gebracht und getötet hat, der Sommer nicht zu rasch gefolgt ist. Es schießt alles zu geil ins Kraut. Wirklich schöne Blüten trägt doch nur das, was gelernt hat, den Frühlingsstürmen zu trotzen. Das Philistertum ist freilich ein böser Mellau, der die besten Pflanzen ersticken kann, aber es ist auch der dumpfe Boden, auf dem das Unkraut gedeiht. Verkümmerten früher lebensvolle Keime unter dem Druck kleinlicher Verhältnisse, so findet jetzt andres seinen Nährboden in der Urteilslosig¬ keit eines neuen Philistertums. Wie wollen Sie sich anders den Sieg dessen auf allen Kunstgebieten erklären, was man die Moderne nennt? Der große Haufe ist gemein, in seiner Gesinnung und in seinem Geschmack. Oder er glaubt in seiner Geschmacklosigkeit an das, was ihm am eindringlichsten vorgeredet wird. Und auf welchen Schwingen segelt denn die moderne Kunst? Auf denen der Reklame und der Koterie. Das sind die großen Blasebälge, mit denen die modernen Geistes¬ helden, die doch nur Heuschreckenflügel zum Fliegen haben, emporgetragen werden in unserm Zeitalter des Dampff, der die Druckerpressen in Bewegung setzt und die Menschen in Verkehr bringt. Die Kleinen, und leider auch die Gemeinen, finden sich zu Haufen zusammen und betäuben die Ohren mit ihrem Flügelschwirren. Die Stille, in der sich ein Talent bilden konnte, findet sich nicht mehr im Zeitalter der Öffentlichkeit, und die Charaktere, die sich in dem Geräusch unsrer Welt bilden, werden schlechte Charaktere. Wo sind heute die bedeutenden Individualitäten? Das Massen¬ geschrei übertäubt sie, und die Masse kann sie nicht vertragen. Was sehen wir in der Kunst und im Kunsthandwerk? Nur das, was auch der Stümper kann. Plakatstil! Die dürftigste und elendeste Form der Kunst. Plakatstil an den Litfaßsäulen und in den Schaufenstern, Plakatstil an Gerät und an Häusern, Plakatstil in den Bildern, an den Büchern und in den Büchern. Alles gleich! Nichts individuell! Die Inferiorität hat das Wort, und mit ihr die Gemeinheit. Sie kennen beide nur die Uniformität, denn nur die Uniformität erlaubt dem Lump, sich neben das Genie zu stellen, und Steigerung ist nur nach unten erlaubt, in der Gemeinheit. Wie erklären Sie sich sonst, daß die Unzucht immer frecher ihr Haupt erheben darf, auf Plataeer so gut wie auf den Bühnen, in Zeitschriften, Büchern und Bildern? Herrgott, wenn ich der Gesellschaft an den Leib könnte, die jede Cigarettensorte in den Schaufenstern mit nackten Weibern ankündigen und in Prosa und in Versen mit und ohne Sentimentalität ihren Cynismus oder ihre Lüsternheit offen als Litteratur zu Markte tragen darf, bloß weil kein Staatsanwalt eine Handhabe findet oder vielleicht auch nicht einzuschreiten wagt aus Respekt vor — einer kleinen Koterie, die die Presse mit ihrem Geschrei erfüllen würde. Aber das Volksgewissen beginnt ja, sich zu regen. Diese Lex Heinze, wenn man sie nur so wenden könnte, daß — ich wäre ganz für eine Lex Heinze! Ich bin starr, sagte ich. Sie wollen der Lex Heinze das Wort rede», Sie? Wo alle vernünftigen Leute, alles, was in Kunst und Wissenschaft einen Namen hat, aufsteht wie ein Mann und entrüstet Protest erhebt gegen diesen Wahnsinn, gegen dieses Attentat auf deutsche Geistes- und Gewissensfreiheit? Ist es denn nicht eine Schändlichkeit, künstlerische Leistungen und meinethalben künstlerische Freiheiten in die Nachbarschaft von ganz gemeinen Ruchlosigkeiten, von Dirnen- und Zuhälter- tum zu bringen? Den Leuten, die ohnehin armselige Philister sind — Sie sagen es ja selbst —, zu erzählen, daß Correggio und Rubens schamlose Gesellen ge¬ wesen seien? Ist es denn nicht geradezu absurd, wenn sich die Herren vom Zentrum erdreisten, über Kunstwerke zu Gericht zu sitzen, nur weil es keine Marien¬ bilder und sonstigen Gegenstände sind, die die Kapläne für Kunst halten? Von Ihnen hätte ich am wenigsten gedacht, daß Sie das Wohl und das Wehe der Kunst Polizeikommissaren und strebsamen jungen Staatsanwälten überliefern möchten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/220>, abgerufen am 19.04.2024.