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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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erlassen haben, werden heute nicht mehr veröffentlicht. Kein einziger Abgeord-
neter wagt heute mehr, die Abtretung von Elsaß-Lothringen an Deutschland
für "ungiltig" zu erklären, weil die Zustimmung der Bevölkerung nicht ein¬
geholt worden sei; sogar der Abgeordnete Preiß ist ein Opportunist geworden
und hat bei den letzten Reichstagswahlen auf die Frage, wie er zu dem Frank¬
furter Friedensvertrnge stehe, eine ausweichende Antwort gegeben. Offenbar
fürchten die Führer der französischen Partei im Reichslande den Nest ihrer
Anhänger zu verlieren, wenn sie auf dem Standpunkt des unfruchtbaren Pro¬
testes gegen vollendete und unabänderliche Thatsachen verharren. In der
Reichstagssitzung vom 21. Februar 1900 hat der Abgeordnete Hauß im Namen
der elsaß-lothringischen Gruppe, zu der auch die Abgeordneten Preiß und
Wetterle gehören, die Versicherung abgegeben, daß sie "samt und sonders, voll
und ganz" auf dem Boden der Reichsverfassung stünden.

Indessen wäre es verfehlt, aus dem Verschwinden der Protestpartei zu
schließen, daß auch die Protestler verschwunden seien. Der offne Protest ist
tot; der verkappte Protest führt uoch ein zähes Leben. Zum Beweise dieser
Behauptung soll zunächst das Zeugnis eines eingebornen Elsässers angeführt
werden. Heinrich Schneegnns, ein Sohn des bekannten Parlamentariers Karl
August Schneegans, hat in dem Hamburger "Lotsen" vom 1. Dezember 1900
einen Aufsatz über die gegenwärtige Stimmung im Reichslande veröffentlicht,
worin u. a. folgendes ausgeführt wird: "Ein Teil der gebildeten Bevölkerung
ist im Grunde ihres Herzens ganz französisch geblieben. Ihre ganze Er¬
ziehung, ihre Bildung, ihre Sprache ist französisch. Sie lesen französische
Zeitungen, französische Romane und Zeitschriften; sie halten sich vollständig
auf dem Laufenden über alles, was im Nachbarlande vor sich geht. Deutsch¬
land interessiert sie nicht." Auch die Landesverratsprozesse, die namentlich in
den achtziger Jahren geführt worden sind, haben grelle Streiflichter auf die
französische Gesinnung zahlreicher Volkskreise geworfen. Ein weiteres Zeichen
für die Stärke der im Lande noch vorhandnen französischen Gesinnung ist die
wiederholte Wahl des Reichstagsabgeordneten Preiß. Im Oktober 1895 ver¬
öffentlichte ein französischer Journalist -- Ernest Jubel -- in dem Pariser
?seit eine Unterredung, die er mit dem genannten Abgeordneten gehabt
hatte. Nach dem Bericht von Jubel hat der Abgeordnete Preiß bei diesem
-- offenbar für die Öffentlichkeit bestimmten -- Gespräch die Theorie ent¬
wickelt, die Protesterklärung, die die Abgeordneten der annektierten Provinzen
1871 in der französischen Nationalversammlung zu Bordeaux abgegeben haben,
sei die letzte offne Aktion der Elsaß-Lothringer, der letzte Ausdruck ihrer Ge-
sinnungen und ihres Willens gewesen; so lange diese Protestation nicht durch
einen neuen, gleichwertigen Akt ausgelöscht sei, fahre Elsaß-Lothringen fort,
gegen die neue Nationalität, die es nicht anerkannt habe, zu protestieren.
Trotz dieses extremen politischen Standpunkts ist der Abgeordnete Preiß 1898
in dem oberelsüssischen Wahlkreise Kolmar wieder zum Reichstagsabgeordneten
gewühlt worden. Endlich muß der offne Kampf, den die große Mehrzahl des


erlassen haben, werden heute nicht mehr veröffentlicht. Kein einziger Abgeord-
neter wagt heute mehr, die Abtretung von Elsaß-Lothringen an Deutschland
für „ungiltig" zu erklären, weil die Zustimmung der Bevölkerung nicht ein¬
geholt worden sei; sogar der Abgeordnete Preiß ist ein Opportunist geworden
und hat bei den letzten Reichstagswahlen auf die Frage, wie er zu dem Frank¬
furter Friedensvertrnge stehe, eine ausweichende Antwort gegeben. Offenbar
fürchten die Führer der französischen Partei im Reichslande den Nest ihrer
Anhänger zu verlieren, wenn sie auf dem Standpunkt des unfruchtbaren Pro¬
testes gegen vollendete und unabänderliche Thatsachen verharren. In der
Reichstagssitzung vom 21. Februar 1900 hat der Abgeordnete Hauß im Namen
der elsaß-lothringischen Gruppe, zu der auch die Abgeordneten Preiß und
Wetterle gehören, die Versicherung abgegeben, daß sie „samt und sonders, voll
und ganz" auf dem Boden der Reichsverfassung stünden.

Indessen wäre es verfehlt, aus dem Verschwinden der Protestpartei zu
schließen, daß auch die Protestler verschwunden seien. Der offne Protest ist
tot; der verkappte Protest führt uoch ein zähes Leben. Zum Beweise dieser
Behauptung soll zunächst das Zeugnis eines eingebornen Elsässers angeführt
werden. Heinrich Schneegnns, ein Sohn des bekannten Parlamentariers Karl
August Schneegans, hat in dem Hamburger „Lotsen" vom 1. Dezember 1900
einen Aufsatz über die gegenwärtige Stimmung im Reichslande veröffentlicht,
worin u. a. folgendes ausgeführt wird: „Ein Teil der gebildeten Bevölkerung
ist im Grunde ihres Herzens ganz französisch geblieben. Ihre ganze Er¬
ziehung, ihre Bildung, ihre Sprache ist französisch. Sie lesen französische
Zeitungen, französische Romane und Zeitschriften; sie halten sich vollständig
auf dem Laufenden über alles, was im Nachbarlande vor sich geht. Deutsch¬
land interessiert sie nicht." Auch die Landesverratsprozesse, die namentlich in
den achtziger Jahren geführt worden sind, haben grelle Streiflichter auf die
französische Gesinnung zahlreicher Volkskreise geworfen. Ein weiteres Zeichen
für die Stärke der im Lande noch vorhandnen französischen Gesinnung ist die
wiederholte Wahl des Reichstagsabgeordneten Preiß. Im Oktober 1895 ver¬
öffentlichte ein französischer Journalist — Ernest Jubel — in dem Pariser
?seit eine Unterredung, die er mit dem genannten Abgeordneten gehabt
hatte. Nach dem Bericht von Jubel hat der Abgeordnete Preiß bei diesem
— offenbar für die Öffentlichkeit bestimmten — Gespräch die Theorie ent¬
wickelt, die Protesterklärung, die die Abgeordneten der annektierten Provinzen
1871 in der französischen Nationalversammlung zu Bordeaux abgegeben haben,
sei die letzte offne Aktion der Elsaß-Lothringer, der letzte Ausdruck ihrer Ge-
sinnungen und ihres Willens gewesen; so lange diese Protestation nicht durch
einen neuen, gleichwertigen Akt ausgelöscht sei, fahre Elsaß-Lothringen fort,
gegen die neue Nationalität, die es nicht anerkannt habe, zu protestieren.
Trotz dieses extremen politischen Standpunkts ist der Abgeordnete Preiß 1898
in dem oberelsüssischen Wahlkreise Kolmar wieder zum Reichstagsabgeordneten
gewühlt worden. Endlich muß der offne Kampf, den die große Mehrzahl des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/330>, abgerufen am 25.04.2024.