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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Der Roman Lothringens

folgen. Der Elsässer ist immer Protestler; er war es gestern gegen die fran¬
zösische Herrschaft; er ist es heute gegen die deutsche, und er würde es morgen
wieder gegen die französische sein, wenn sie ihm morgen auferlegt werden sollte.
Er liebt die "Schwöwe" nicht, er liebt die "Welsch" aber auch nicht. Mehr
noch als für andre Völker gilt hier der Satz, daß eine Nation nicht von Ge¬
fühlen, sondern von Geschäften lebt. Heute muß das Elsaß mit dem Reich
Geschäfte machen, um vorwärts zu kommen. "Ihr bildet Euch immer ein, daß
die große schwarze Schleife, die die Elsässerin auf dem Kopfe trägt, ein Zeichen
der Trauer ist!" so ruft ein nüchterner Elsüsser dem Franzosen zu. "Ihr irrt
Euch -- die Schleife ist nationale Tracht." -- Der Lothringer ist weicher,
romanischer, weiblicher. Er ist dem deutschen Eroberer gegenüber schmieg¬
samer. Er poltert nicht und duldet still. In seinem innersten Wesen aber
ist er der Germanisierung viel unzugänglicher als der Elsüsser. Den fran¬
zösischen Ansprüchen wiederum bietet er keine feste Stütze: er ist nicht stark¬
knochig genug.

In der letzten Zeit hat sich das Interesse der französischen Intellektuellen in
ganz ungewöhnlichem Maße der elsaß-lothringischen "Frage" zugewandt. Hie
und da wird sie in Verbindung mit dem Modethema, der deutsch-französischen
Annäherung, behandelt. Gemeinsam sind den meisten Erörterungen zwei
Leitsätze. Erstens die Feststellung, daß das politische Protestlertum, wie es
von den Unterzeichnern der Erklärung von Bordeaux (1. März 1871) gedacht
war, in der parlamentarischen Praxis nicht mehr vorhanden ist. Dann aber
die Behauptung, daß die geistige Abneigung gegen alles Deutsche, besonders
natürlich das deutsche Regierungssystem, und die Hinneigung zur französischen
Kultur seit einigen Jahren wieder im Wachsen ist (vergleiche zum Beispiel
Andre Lichtenberger). Diese zweite Behauptung fällt um so mehr auf, als
die französischen Kreise in Elsaß-Lothringen darüber ganz andre Ansichten
haben, als die Pariser Berichterstatter, die dem letzten Kaisermanöver in den
Reichslanden beiwohnten, vielfach bemerken mußten. Von den dichterischen
Werken über das Elsaß-Lothringen der Gegenwart verdienten bisher nur drei
Schriften genannt zu werden: zunächst I/ouM von Casr-Forest. Diese literarisch
wertlose Arbeit ist in Frankreich so ziemlich totgeschwiegen worden. Sie vertrat
den Gedanken, daß die Frankreich genommenen Provinzen zu vergessen be¬
ginnen und sich mit den neuen Verhältnissen auszusöhnen suchen. Den ent¬
gegengesetzten Standpunkt hat der Akademiker Rene Bazin in seinem Roman
1,68 Odsrlö, der zu den populärsten Werken der modernen französischen Literatur
gehört, und der auch, ohne Erfolg zwar, auf die Bühne gebracht worden ist.
Die Söhne der 1870/71 Annektierten suchen sich mit den neuen Herren des
Landes gut zu stellen, die Enkel kehren aber zur UnVersöhnlichkeit der Gro߬
väter zurück. Jean Oberle, der Held Bazins, desertiert und flieht nach
Frankreich. Auch Maurice Barres ist von der unerschütterlichen Anhänglichkeit
der Elsaß-Lothringer überzeugt. Gerade deshalb aber gibt er den französisch-


Der Roman Lothringens

folgen. Der Elsässer ist immer Protestler; er war es gestern gegen die fran¬
zösische Herrschaft; er ist es heute gegen die deutsche, und er würde es morgen
wieder gegen die französische sein, wenn sie ihm morgen auferlegt werden sollte.
Er liebt die „Schwöwe" nicht, er liebt die „Welsch" aber auch nicht. Mehr
noch als für andre Völker gilt hier der Satz, daß eine Nation nicht von Ge¬
fühlen, sondern von Geschäften lebt. Heute muß das Elsaß mit dem Reich
Geschäfte machen, um vorwärts zu kommen. „Ihr bildet Euch immer ein, daß
die große schwarze Schleife, die die Elsässerin auf dem Kopfe trägt, ein Zeichen
der Trauer ist!" so ruft ein nüchterner Elsüsser dem Franzosen zu. „Ihr irrt
Euch — die Schleife ist nationale Tracht." — Der Lothringer ist weicher,
romanischer, weiblicher. Er ist dem deutschen Eroberer gegenüber schmieg¬
samer. Er poltert nicht und duldet still. In seinem innersten Wesen aber
ist er der Germanisierung viel unzugänglicher als der Elsüsser. Den fran¬
zösischen Ansprüchen wiederum bietet er keine feste Stütze: er ist nicht stark¬
knochig genug.

In der letzten Zeit hat sich das Interesse der französischen Intellektuellen in
ganz ungewöhnlichem Maße der elsaß-lothringischen „Frage" zugewandt. Hie
und da wird sie in Verbindung mit dem Modethema, der deutsch-französischen
Annäherung, behandelt. Gemeinsam sind den meisten Erörterungen zwei
Leitsätze. Erstens die Feststellung, daß das politische Protestlertum, wie es
von den Unterzeichnern der Erklärung von Bordeaux (1. März 1871) gedacht
war, in der parlamentarischen Praxis nicht mehr vorhanden ist. Dann aber
die Behauptung, daß die geistige Abneigung gegen alles Deutsche, besonders
natürlich das deutsche Regierungssystem, und die Hinneigung zur französischen
Kultur seit einigen Jahren wieder im Wachsen ist (vergleiche zum Beispiel
Andre Lichtenberger). Diese zweite Behauptung fällt um so mehr auf, als
die französischen Kreise in Elsaß-Lothringen darüber ganz andre Ansichten
haben, als die Pariser Berichterstatter, die dem letzten Kaisermanöver in den
Reichslanden beiwohnten, vielfach bemerken mußten. Von den dichterischen
Werken über das Elsaß-Lothringen der Gegenwart verdienten bisher nur drei
Schriften genannt zu werden: zunächst I/ouM von Casr-Forest. Diese literarisch
wertlose Arbeit ist in Frankreich so ziemlich totgeschwiegen worden. Sie vertrat
den Gedanken, daß die Frankreich genommenen Provinzen zu vergessen be¬
ginnen und sich mit den neuen Verhältnissen auszusöhnen suchen. Den ent¬
gegengesetzten Standpunkt hat der Akademiker Rene Bazin in seinem Roman
1,68 Odsrlö, der zu den populärsten Werken der modernen französischen Literatur
gehört, und der auch, ohne Erfolg zwar, auf die Bühne gebracht worden ist.
Die Söhne der 1870/71 Annektierten suchen sich mit den neuen Herren des
Landes gut zu stellen, die Enkel kehren aber zur UnVersöhnlichkeit der Gro߬
väter zurück. Jean Oberle, der Held Bazins, desertiert und flieht nach
Frankreich. Auch Maurice Barres ist von der unerschütterlichen Anhänglichkeit
der Elsaß-Lothringer überzeugt. Gerade deshalb aber gibt er den französisch-


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[0506] Der Roman Lothringens folgen. Der Elsässer ist immer Protestler; er war es gestern gegen die fran¬ zösische Herrschaft; er ist es heute gegen die deutsche, und er würde es morgen wieder gegen die französische sein, wenn sie ihm morgen auferlegt werden sollte. Er liebt die „Schwöwe" nicht, er liebt die „Welsch" aber auch nicht. Mehr noch als für andre Völker gilt hier der Satz, daß eine Nation nicht von Ge¬ fühlen, sondern von Geschäften lebt. Heute muß das Elsaß mit dem Reich Geschäfte machen, um vorwärts zu kommen. „Ihr bildet Euch immer ein, daß die große schwarze Schleife, die die Elsässerin auf dem Kopfe trägt, ein Zeichen der Trauer ist!" so ruft ein nüchterner Elsüsser dem Franzosen zu. „Ihr irrt Euch — die Schleife ist nationale Tracht." — Der Lothringer ist weicher, romanischer, weiblicher. Er ist dem deutschen Eroberer gegenüber schmieg¬ samer. Er poltert nicht und duldet still. In seinem innersten Wesen aber ist er der Germanisierung viel unzugänglicher als der Elsüsser. Den fran¬ zösischen Ansprüchen wiederum bietet er keine feste Stütze: er ist nicht stark¬ knochig genug. In der letzten Zeit hat sich das Interesse der französischen Intellektuellen in ganz ungewöhnlichem Maße der elsaß-lothringischen „Frage" zugewandt. Hie und da wird sie in Verbindung mit dem Modethema, der deutsch-französischen Annäherung, behandelt. Gemeinsam sind den meisten Erörterungen zwei Leitsätze. Erstens die Feststellung, daß das politische Protestlertum, wie es von den Unterzeichnern der Erklärung von Bordeaux (1. März 1871) gedacht war, in der parlamentarischen Praxis nicht mehr vorhanden ist. Dann aber die Behauptung, daß die geistige Abneigung gegen alles Deutsche, besonders natürlich das deutsche Regierungssystem, und die Hinneigung zur französischen Kultur seit einigen Jahren wieder im Wachsen ist (vergleiche zum Beispiel Andre Lichtenberger). Diese zweite Behauptung fällt um so mehr auf, als die französischen Kreise in Elsaß-Lothringen darüber ganz andre Ansichten haben, als die Pariser Berichterstatter, die dem letzten Kaisermanöver in den Reichslanden beiwohnten, vielfach bemerken mußten. Von den dichterischen Werken über das Elsaß-Lothringen der Gegenwart verdienten bisher nur drei Schriften genannt zu werden: zunächst I/ouM von Casr-Forest. Diese literarisch wertlose Arbeit ist in Frankreich so ziemlich totgeschwiegen worden. Sie vertrat den Gedanken, daß die Frankreich genommenen Provinzen zu vergessen be¬ ginnen und sich mit den neuen Verhältnissen auszusöhnen suchen. Den ent¬ gegengesetzten Standpunkt hat der Akademiker Rene Bazin in seinem Roman 1,68 Odsrlö, der zu den populärsten Werken der modernen französischen Literatur gehört, und der auch, ohne Erfolg zwar, auf die Bühne gebracht worden ist. Die Söhne der 1870/71 Annektierten suchen sich mit den neuen Herren des Landes gut zu stellen, die Enkel kehren aber zur UnVersöhnlichkeit der Gro߬ väter zurück. Jean Oberle, der Held Bazins, desertiert und flieht nach Frankreich. Auch Maurice Barres ist von der unerschütterlichen Anhänglichkeit der Elsaß-Lothringer überzeugt. Gerade deshalb aber gibt er den französisch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/506>, abgerufen am 25.04.2024.