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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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manche Stellen werden dadurch ganz unverständlich, noch
dazu in dem schlechten Text, aber die Regel ist dafür genau
durch alle Strophen ausgehalten. --

Das wären ungefähr alle anomale Fälle, außer zweien,
die in der dritten und vierten Einwendung eigens abgehandelt
werden sollen. Ich habe mich dabei auf die maneßische Samm-
lung eingeschränkt, als die reinste und erste Quelle des Min-
nesangs, auf den es vorzüglich abgesehen.

Vielleicht sind mir Einzelnheiten oder Beispiele entgan-
gen, die Untersuchung war eben so mühsam als langweilig,
gleichwohl hielt ich sie zur Sicherung des längst vermutheten
Resultats für unumgänglich. Ich frage also: was beweisen
diese wenigen Anomalien unter zwölfhundert Tönen, in wel-
chen das Princip deutlich regiert? Und ich habe die Abwei-
chung zu erklären versucht, und, was nicht zu übersehen ist,
bewiesen, daß sie früh und spät vorkommen und in jenem
Fall nicht bloß in den Minneliedern, sondern auch in denen,
welche Docen ausschließlich zu Meistergesängen machen will.

Dritte Einwendung. (Der Ton des Titurel.)

Betrachtet man bloß die Reime, so ist dieser Ton ein sehr
einfacher und regelmäßiger, von sechs Reimen oder vielmehr
sieben Zeilen, wo dann die mittlere des Abgesangs ungebunden
bleibt. Eine auffallende Abweichung zeigt sich aber sogleich im
Silbenverhältniß, und diese hat offenbar immer darin gelegen
und ist aus keinem spätern Mißverstand herzuleiten. Wolfram
versichert selbst, daß er die Lieder (Strophen) sorgfältig nach-
gemessen, und nach den Regeln des Meistergesangs. Wir
müssen also glauben, es sey ein Meisterton und sein Silben-
verhältniß mit allem Bedacht von dem Dichter angenommen
worden. Was Wolfram selbst befürchtet, Entstellung unter
den Händen der Abschreiber, ist zwar eingetroffen und wir
haben den Ton in seiner Reinheit in keiner der bekannten

manche Stellen werden dadurch ganz unverſtaͤndlich, noch
dazu in dem ſchlechten Text, aber die Regel iſt dafuͤr genau
durch alle Strophen ausgehalten. —

Das waͤren ungefaͤhr alle anomale Faͤlle, außer zweien,
die in der dritten und vierten Einwendung eigens abgehandelt
werden ſollen. Ich habe mich dabei auf die maneßiſche Samm-
lung eingeſchraͤnkt, als die reinſte und erſte Quelle des Min-
neſangs, auf den es vorzuͤglich abgeſehen.

Vielleicht ſind mir Einzelnheiten oder Beiſpiele entgan-
gen, die Unterſuchung war eben ſo muͤhſam als langweilig,
gleichwohl hielt ich ſie zur Sicherung des laͤngſt vermutheten
Reſultats fuͤr unumgaͤnglich. Ich frage alſo: was beweiſen
dieſe wenigen Anomalien unter zwoͤlfhundert Toͤnen, in wel-
chen das Princip deutlich regiert? Und ich habe die Abwei-
chung zu erklaͤren verſucht, und, was nicht zu uͤberſehen iſt,
bewieſen, daß ſie fruͤh und ſpaͤt vorkommen und in jenem
Fall nicht bloß in den Minneliedern, ſondern auch in denen,
welche Docen ausſchließlich zu Meiſtergeſaͤngen machen will.

Dritte Einwendung. (Der Ton des Titurel.)

Betrachtet man bloß die Reime, ſo iſt dieſer Ton ein ſehr
einfacher und regelmaͤßiger, von ſechs Reimen oder vielmehr
ſieben Zeilen, wo dann die mittlere des Abgeſangs ungebunden
bleibt. Eine auffallende Abweichung zeigt ſich aber ſogleich im
Silbenverhaͤltniß, und dieſe hat offenbar immer darin gelegen
und iſt aus keinem ſpaͤtern Mißverſtand herzuleiten. Wolfram
verſichert ſelbſt, daß er die Lieder (Strophen) ſorgfaͤltig nach-
gemeſſen, und nach den Regeln des Meiſtergeſangs. Wir
muͤſſen alſo glauben, es ſey ein Meiſterton und ſein Silben-
verhaͤltniß mit allem Bedacht von dem Dichter angenommen
worden. Was Wolfram ſelbſt befuͤrchtet, Entſtellung unter
den Haͤnden der Abſchreiber, iſt zwar eingetroffen und wir
haben den Ton in ſeiner Reinheit in keiner der bekannten

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[58/0068] manche Stellen werden dadurch ganz unverſtaͤndlich, noch dazu in dem ſchlechten Text, aber die Regel iſt dafuͤr genau durch alle Strophen ausgehalten. — Das waͤren ungefaͤhr alle anomale Faͤlle, außer zweien, die in der dritten und vierten Einwendung eigens abgehandelt werden ſollen. Ich habe mich dabei auf die maneßiſche Samm- lung eingeſchraͤnkt, als die reinſte und erſte Quelle des Min- neſangs, auf den es vorzuͤglich abgeſehen. Vielleicht ſind mir Einzelnheiten oder Beiſpiele entgan- gen, die Unterſuchung war eben ſo muͤhſam als langweilig, gleichwohl hielt ich ſie zur Sicherung des laͤngſt vermutheten Reſultats fuͤr unumgaͤnglich. Ich frage alſo: was beweiſen dieſe wenigen Anomalien unter zwoͤlfhundert Toͤnen, in wel- chen das Princip deutlich regiert? Und ich habe die Abwei- chung zu erklaͤren verſucht, und, was nicht zu uͤberſehen iſt, bewieſen, daß ſie fruͤh und ſpaͤt vorkommen und in jenem Fall nicht bloß in den Minneliedern, ſondern auch in denen, welche Docen ausſchließlich zu Meiſtergeſaͤngen machen will. Dritte Einwendung. (Der Ton des Titurel.) Betrachtet man bloß die Reime, ſo iſt dieſer Ton ein ſehr einfacher und regelmaͤßiger, von ſechs Reimen oder vielmehr ſieben Zeilen, wo dann die mittlere des Abgeſangs ungebunden bleibt. Eine auffallende Abweichung zeigt ſich aber ſogleich im Silbenverhaͤltniß, und dieſe hat offenbar immer darin gelegen und iſt aus keinem ſpaͤtern Mißverſtand herzuleiten. Wolfram verſichert ſelbſt, daß er die Lieder (Strophen) ſorgfaͤltig nach- gemeſſen, und nach den Regeln des Meiſtergeſangs. Wir muͤſſen alſo glauben, es ſey ein Meiſterton und ſein Silben- verhaͤltniß mit allem Bedacht von dem Dichter angenommen worden. Was Wolfram ſelbſt befuͤrchtet, Entſtellung unter den Haͤnden der Abſchreiber, iſt zwar eingetroffen und wir haben den Ton in ſeiner Reinheit in keiner der bekannten

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/68>, abgerufen am 29.03.2024.