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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VIII. Atavismus der Seelen.
von der Kontinuität des Keimplasma zusammenhängt, ist nach
meiner Ansicht übertrieben; vielmehr halte ich an der Ueber-
zeugung fest, daß die mächtigen Gesetze der progressiven
Vererbung
und der damit verknüpften funktionellen
Anpassung
ebenso für die Seele wie für den Leib gelten.
Die neuen Eigenschaften, welche das Individuum während seines
Lebens erworben hat, können theilweise auf die molekulare
Zusammensetzung des Keimplasma in der Eizelle und Samen-
zelle zurückwirken und können so durch Vererbung unter gewissen
Bedingungen (natürlich nur als latente Spannkräfte) auf die
nächste Generation übertragen werden.

Psychologischer Atavismus. Wenn bei der Seelen-
Mischung im Augenblicke der Empfängniß zunächst auch nur
die Spannkräfte der beiden Eltern-Seelen mittelst Verschmelzung
der beiden erotischen Zellkerne erblich übertragen werden, so kann
damit doch zugleich der erbliche psychische Einfluß älterer, oft
weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden.
Denn auch die Gesetze der latenten Vererbung oder des
Atavismus gelten ebenso für die Psyche wie für die ana-
tomische Organisation. Die merkwürdigen Erscheinungen dieses
"Rückschlags" begegnen uns in sehr einfacher und lehr-
reicher Form beim "Generationswechsel" der Polypen und Me-
dusen. Hier wechseln regelmäßig zwei sehr verschiedene Gene-
rationen so mit einander ab, daß die erste der dritten, fünften
u. s. w. gleich ist, dagegen die zweite (von jenen sehr verschiedene)
der vierten, sechsten u. s. w. (Natürl. Schöpfgsg. S. 185). Beim
Menschen wie bei den höheren Thieren und Pflanzen, wo in
Folge kontinuirlicher Vererbung jede Generation der anderen
gleicht, fehlt jener reguläre Generationswechsel; aber trotzdem
fallen uns auch hier vielfach Erscheinungen des Rückschlags
oder Atavismus auf, welche auf dasselbe Gesetz der latenten
Vererbung zurückzuführen sind.

VIII. Atavismus der Seelen.
von der Kontinuität des Keimplasma zuſammenhängt, iſt nach
meiner Anſicht übertrieben; vielmehr halte ich an der Ueber-
zeugung feſt, daß die mächtigen Geſetze der progreſſiven
Vererbung
und der damit verknüpften funktionellen
Anpaſſung
ebenſo für die Seele wie für den Leib gelten.
Die neuen Eigenſchaften, welche das Individuum während ſeines
Lebens erworben hat, können theilweiſe auf die molekulare
Zuſammenſetzung des Keimplasma in der Eizelle und Samen-
zelle zurückwirken und können ſo durch Vererbung unter gewiſſen
Bedingungen (natürlich nur als latente Spannkräfte) auf die
nächſte Generation übertragen werden.

Pſychologiſcher Atavismus. Wenn bei der Seelen-
Miſchung im Augenblicke der Empfängniß zunächſt auch nur
die Spannkräfte der beiden Eltern-Seelen mittelſt Verſchmelzung
der beiden erotiſchen Zellkerne erblich übertragen werden, ſo kann
damit doch zugleich der erbliche pſychiſche Einfluß älterer, oft
weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden.
Denn auch die Geſetze der latenten Vererbung oder des
Atavismus gelten ebenſo für die Pſyche wie für die ana-
tomiſche Organiſation. Die merkwürdigen Erſcheinungen dieſes
Rückſchlags“ begegnen uns in ſehr einfacher und lehr-
reicher Form beim „Generationswechſel“ der Polypen und Me-
duſen. Hier wechſeln regelmäßig zwei ſehr verſchiedene Gene-
rationen ſo mit einander ab, daß die erſte der dritten, fünften
u. ſ. w. gleich iſt, dagegen die zweite (von jenen ſehr verſchiedene)
der vierten, ſechſten u. ſ. w. (Natürl. Schöpfgsg. S. 185). Beim
Menſchen wie bei den höheren Thieren und Pflanzen, wo in
Folge kontinuirlicher Vererbung jede Generation der anderen
gleicht, fehlt jener reguläre Generationswechſel; aber trotzdem
fallen uns auch hier vielfach Erſcheinungen des Rückſchlags
oder Atavismus auf, welche auf dasſelbe Geſetz der latenten
Vererbung zurückzuführen ſind.

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[165/0181] VIII. Atavismus der Seelen. von der Kontinuität des Keimplasma zuſammenhängt, iſt nach meiner Anſicht übertrieben; vielmehr halte ich an der Ueber- zeugung feſt, daß die mächtigen Geſetze der progreſſiven Vererbung und der damit verknüpften funktionellen Anpaſſung ebenſo für die Seele wie für den Leib gelten. Die neuen Eigenſchaften, welche das Individuum während ſeines Lebens erworben hat, können theilweiſe auf die molekulare Zuſammenſetzung des Keimplasma in der Eizelle und Samen- zelle zurückwirken und können ſo durch Vererbung unter gewiſſen Bedingungen (natürlich nur als latente Spannkräfte) auf die nächſte Generation übertragen werden. Pſychologiſcher Atavismus. Wenn bei der Seelen- Miſchung im Augenblicke der Empfängniß zunächſt auch nur die Spannkräfte der beiden Eltern-Seelen mittelſt Verſchmelzung der beiden erotiſchen Zellkerne erblich übertragen werden, ſo kann damit doch zugleich der erbliche pſychiſche Einfluß älterer, oft weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden. Denn auch die Geſetze der latenten Vererbung oder des Atavismus gelten ebenſo für die Pſyche wie für die ana- tomiſche Organiſation. Die merkwürdigen Erſcheinungen dieſes „Rückſchlags“ begegnen uns in ſehr einfacher und lehr- reicher Form beim „Generationswechſel“ der Polypen und Me- duſen. Hier wechſeln regelmäßig zwei ſehr verſchiedene Gene- rationen ſo mit einander ab, daß die erſte der dritten, fünften u. ſ. w. gleich iſt, dagegen die zweite (von jenen ſehr verſchiedene) der vierten, ſechſten u. ſ. w. (Natürl. Schöpfgsg. S. 185). Beim Menſchen wie bei den höheren Thieren und Pflanzen, wo in Folge kontinuirlicher Vererbung jede Generation der anderen gleicht, fehlt jener reguläre Generationswechſel; aber trotzdem fallen uns auch hier vielfach Erſcheinungen des Rückſchlags oder Atavismus auf, welche auf dasſelbe Geſetz der latenten Vererbung zurückzuführen ſind.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/181>, abgerufen am 23.04.2024.