Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

gen des Bewusstseyns, welche nicht Gefühle genannt
werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während
sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent-
fernungen von der Stütze des Hebels, an ihm angebracht
werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde
er sie fühlen, wenn er Bewusstseyn hätte; und immer
anders und anders fühlen, je nachdem grössere oder klei-
nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären.
Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, müsste
mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede-
nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen
oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider
einander wirkenden Kräften gedreht würde.

Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise
darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor-
stellungen sich im Bewusstseyn befinden; ganz andre
Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin-
gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar
sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen
wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann.
Folglich ist es unrichtig, dass die Affecte ge-
steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie-
denes Maass für Affecten und Gefühle; ja die
ersten und die andern gehören gar nicht zusam-
men wie Art und Gattung; sondern es sind ver-
schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man-
nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See-
lenzustände
.

Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge-
schlossen wurde, das liegt schon bey blosser Analyse so
klar vor Augen, dass es nie hätte können verfehlt wer-
den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen,
Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet
werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die
Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh-
rungen; also (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle
seyn! -- Anders schloss Wolff; er hatte noch kein

gen des Bewuſstseyns, welche nicht Gefühle genannt
werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während
sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent-
fernungen von der Stütze des Hebels, an ihm angebracht
werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde
er sie fühlen, wenn er Bewuſstseyn hätte; und immer
anders und anders fühlen, je nachdem gröſsere oder klei-
nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären.
Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, müſste
mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede-
nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen
oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider
einander wirkenden Kräften gedreht würde.

Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise
darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor-
stellungen sich im Bewuſstseyn befinden; ganz andre
Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin-
gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar
sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen
wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann.
Folglich ist es unrichtig, daſs die Affecte ge-
steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie-
denes Maaſs für Affecten und Gefühle; ja die
ersten und die andern gehören gar nicht zusam-
men wie Art und Gattung; sondern es sind ver-
schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man-
nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See-
lenzustände
.

Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge-
schlossen wurde, das liegt schon bey bloſser Analyse so
klar vor Augen, daſs es nie hätte können verfehlt wer-
den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen,
Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet
werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die
Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh-
rungen; also (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle
seyn! — Anders schloſs Wolff; er hatte noch kein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0138" n="103"/>
gen des Bewu&#x017F;stseyns, welche <hi rendition="#g">nicht</hi> Gefühle genannt<lb/>
werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während<lb/>
sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent-<lb/>
fernungen von der Stütze des Hebels, an ihm angebracht<lb/>
werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde<lb/>
er sie <hi rendition="#g">fühlen</hi>, wenn er Bewu&#x017F;stseyn hätte; und immer<lb/>
anders und anders fühlen, je nachdem grö&#x017F;sere oder klei-<lb/>
nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären.<lb/>
Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, mü&#x017F;ste<lb/>
mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede-<lb/>
nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen<lb/>
oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider<lb/>
einander wirkenden Kräften gedreht würde.</p><lb/>
              <p>Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise<lb/>
darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor-<lb/>
stellungen sich im Bewu&#x017F;stseyn befinden; ganz andre<lb/>
Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin-<lb/>
gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar<lb/>
sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen<lb/>
wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann.<lb/><hi rendition="#g">Folglich ist es unrichtig, da&#x017F;s die Affecte ge-<lb/>
steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie-<lb/>
denes Maa&#x017F;s für Affecten und Gefühle; ja die<lb/>
ersten und die andern gehören gar nicht zusam-<lb/>
men wie Art und Gattung; sondern es sind ver-<lb/>
schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man-<lb/>
nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See-<lb/>
lenzustände</hi>.</p><lb/>
              <p>Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge-<lb/>
schlossen wurde, das liegt schon bey blo&#x017F;ser Analyse so<lb/>
klar vor Augen, da&#x017F;s es nie hätte können verfehlt wer-<lb/>
den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen,<lb/>
Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet<lb/>
werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die<lb/>
Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh-<lb/>
rungen; <hi rendition="#g">also</hi> (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle<lb/>
seyn! &#x2014; Anders schlo&#x017F;s <hi rendition="#g">Wolff</hi>; er hatte noch kein<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0138] gen des Bewuſstseyns, welche nicht Gefühle genannt werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent- fernungen von der Stütze des Hebels, an ihm angebracht werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde er sie fühlen, wenn er Bewuſstseyn hätte; und immer anders und anders fühlen, je nachdem gröſsere oder klei- nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären. Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, müſste mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede- nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider einander wirkenden Kräften gedreht würde. Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor- stellungen sich im Bewuſstseyn befinden; ganz andre Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin- gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann. Folglich ist es unrichtig, daſs die Affecte ge- steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie- denes Maaſs für Affecten und Gefühle; ja die ersten und die andern gehören gar nicht zusam- men wie Art und Gattung; sondern es sind ver- schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man- nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See- lenzustände. Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge- schlossen wurde, das liegt schon bey bloſser Analyse so klar vor Augen, daſs es nie hätte können verfehlt wer- den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen, Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh- rungen; also (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle seyn! — Anders schloſs Wolff; er hatte noch kein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/138
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/138>, abgerufen am 29.03.2024.