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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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flossene Zeit erscheint also in diesem Maasse kürzer;
im umgekehrten Falle desto länger.

Es ist nun nicht schwer einzusehn, dass die Lange-
weile zwey entgegengesetzte Ursachen haben kann. Steht
der Zuhörer hoch über dem Vortrage, der ihm gehalten
wird, so langweilt er sich; steht er tief darunter, so be-
gegnet ihm dasselbe. -- Im ersten Falle schiebt er als
gedankenreicher Kopf seine eignen, schnell hervorsprin-
genden Vorstellungen überall zwischen ein, und drängt
hiedurch die Glieder der ihm dargebotenen Reihe gleich-
sam auseinander, so dass sie nicht gehörig verschmelzen
kann; überdies hemmt er als Kritiker durch seinen Ta-
del die einzelnen Glieder, welches die vorige Einwirkung
noch vermehrt. Der Ungebildete würde sich dem Vor-
trage hingegeben, und die ihm dargebotene Unterhaltung
fröhlich genossen haben. Dagegen wenn auf gebildete,
kenntnissreiche Männer eine Unterhaltung berechnet ist:
so gehören zu der dargebotenen Reihe alle die Gedan-
ken, die sie selbst hinzuthun sollen. Man redet mit ihnen
eine bekannte Sprache; die aber für den Unkundigen
nichts bedeutet. Das Unverstandene giebt dem Letzte-
ren verworrene Reproductionen; und eben diese sind der
Sitz der Langenweile.

Wir können hier noch die Frage berühren, wie weit
überhaupt die psychologische Möglichkeit reiche, den
Unterschied der Zeiten wahrzunehmen. Es ist gewiss,
dass wir diese Möglichkeit als in sehr enge Gränzen ein-
geschlossen betrachten müssen. Wenn eine Folge von
Vorstellungen in solchen Zeitabschnitten gegeben wird,
welche dem Vorrücken des Erdballs um einen Fuss, oder
gar dem Fortschritte des Lichts um einen Zoll, entspre-
chen: so ist kein Zweifel, dass hunderte solcher Vorstel-
lungen, wiewohl sie nach einander eintreten, für uns als
absolut gleichzeitig zu betrachten sind. Um nun wenig-
stens etwas Licht auf diesen dunkeln Gegenstand zu wer-
fen: mache ich zwey Bemerkungen:

1) Während eine Vorstellung allmählig sinkt, und

flossene Zeit erscheint also in diesem Maaſse kürzer;
im umgekehrten Falle desto länger.

Es ist nun nicht schwer einzusehn, daſs die Lange-
weile zwey entgegengesetzte Ursachen haben kann. Steht
der Zuhörer hoch über dem Vortrage, der ihm gehalten
wird, so langweilt er sich; steht er tief darunter, so be-
gegnet ihm dasselbe. — Im ersten Falle schiebt er als
gedankenreicher Kopf seine eignen, schnell hervorsprin-
genden Vorstellungen überall zwischen ein, und drängt
hiedurch die Glieder der ihm dargebotenen Reihe gleich-
sam auseinander, so daſs sie nicht gehörig verschmelzen
kann; überdies hemmt er als Kritiker durch seinen Ta-
del die einzelnen Glieder, welches die vorige Einwirkung
noch vermehrt. Der Ungebildete würde sich dem Vor-
trage hingegeben, und die ihm dargebotene Unterhaltung
fröhlich genossen haben. Dagegen wenn auf gebildete,
kenntniſsreiche Männer eine Unterhaltung berechnet ist:
so gehören zu der dargebotenen Reihe alle die Gedan-
ken, die sie selbst hinzuthun sollen. Man redet mit ihnen
eine bekannte Sprache; die aber für den Unkundigen
nichts bedeutet. Das Unverstandene giebt dem Letzte-
ren verworrene Reproductionen; und eben diese sind der
Sitz der Langenweile.

Wir können hier noch die Frage berühren, wie weit
überhaupt die psychologische Möglichkeit reiche, den
Unterschied der Zeiten wahrzunehmen. Es ist gewiſs,
daſs wir diese Möglichkeit als in sehr enge Gränzen ein-
geschlossen betrachten müssen. Wenn eine Folge von
Vorstellungen in solchen Zeitabschnitten gegeben wird,
welche dem Vorrücken des Erdballs um einen Fuſs, oder
gar dem Fortschritte des Lichts um einen Zoll, entspre-
chen: so ist kein Zweifel, daſs hunderte solcher Vorstel-
lungen, wiewohl sie nach einander eintreten, für uns als
absolut gleichzeitig zu betrachten sind. Um nun wenig-
stens etwas Licht auf diesen dunkeln Gegenstand zu wer-
fen: mache ich zwey Bemerkungen:

1) Während eine Vorstellung allmählig sinkt, und

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[158/0193] flossene Zeit erscheint also in diesem Maaſse kürzer; im umgekehrten Falle desto länger. Es ist nun nicht schwer einzusehn, daſs die Lange- weile zwey entgegengesetzte Ursachen haben kann. Steht der Zuhörer hoch über dem Vortrage, der ihm gehalten wird, so langweilt er sich; steht er tief darunter, so be- gegnet ihm dasselbe. — Im ersten Falle schiebt er als gedankenreicher Kopf seine eignen, schnell hervorsprin- genden Vorstellungen überall zwischen ein, und drängt hiedurch die Glieder der ihm dargebotenen Reihe gleich- sam auseinander, so daſs sie nicht gehörig verschmelzen kann; überdies hemmt er als Kritiker durch seinen Ta- del die einzelnen Glieder, welches die vorige Einwirkung noch vermehrt. Der Ungebildete würde sich dem Vor- trage hingegeben, und die ihm dargebotene Unterhaltung fröhlich genossen haben. Dagegen wenn auf gebildete, kenntniſsreiche Männer eine Unterhaltung berechnet ist: so gehören zu der dargebotenen Reihe alle die Gedan- ken, die sie selbst hinzuthun sollen. Man redet mit ihnen eine bekannte Sprache; die aber für den Unkundigen nichts bedeutet. Das Unverstandene giebt dem Letzte- ren verworrene Reproductionen; und eben diese sind der Sitz der Langenweile. Wir können hier noch die Frage berühren, wie weit überhaupt die psychologische Möglichkeit reiche, den Unterschied der Zeiten wahrzunehmen. Es ist gewiſs, daſs wir diese Möglichkeit als in sehr enge Gränzen ein- geschlossen betrachten müssen. Wenn eine Folge von Vorstellungen in solchen Zeitabschnitten gegeben wird, welche dem Vorrücken des Erdballs um einen Fuſs, oder gar dem Fortschritte des Lichts um einen Zoll, entspre- chen: so ist kein Zweifel, daſs hunderte solcher Vorstel- lungen, wiewohl sie nach einander eintreten, für uns als absolut gleichzeitig zu betrachten sind. Um nun wenig- stens etwas Licht auf diesen dunkeln Gegenstand zu wer- fen: mache ich zwey Bemerkungen: 1) Während eine Vorstellung allmählig sinkt, und

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/193>, abgerufen am 16.04.2024.