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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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schauen, welches gewöhnlich zur Sinnlichkeit gerechnet
wird, erst viel tiefer unten, nach der Lehre vom Selbst-
bewusstseyn, kann in Betracht gezogen werden.

Desgleichen wolle man hier nicht nach dem innern
Sinne fragen. Er soll den Gegenstand des folgenden
Capitels ausmachen. Für jetzt haben wir andre, noch
dringendere Angelegenheiten zu besorgen.

Zur Uebersicht kann es nützlich seyn, wenn ich an
diesem Orte die schon in der Einleitung gegebenen Ana-
lysen von Verstand und Vernunft wieder in Erinne-
rung bringe; und daran noch ein paar Nebenbestimmun-
gen knüpfe.

Verstand nenne ich das Vermögen, sich im Denken
nach der Qualität des Gedachten zu richten.

Das Gegentheil hievon ist der Unverstand, der sich
als Mangel an Fassungskraft, als Zerstreutheit, Thorheit,
Verblendung durch Affecten äussert.

Die Qualität des Gedachten ist unabhängig von der
Stärke, welche zufällig eine Vorstellung vor andern be-
sitzt, und eben so von ihrer momentanen Aufregung.
Aber zur Qualität des Gedachten gehört

1) die Achnlichkeit und Verschiedenheit in demsel-
ben. Daher ist der Verstand ein logisches Vermögen.

2) Die Verknüpfung. Daher ist dem praktischen
Verstande stets die ganze Lage der Dinge gegenwärtig;
daher auch werden Zeichen verstanden, Sprachen ge-
lernt, u. dgl. m.

Vernunft nenne ich das Vermögen der Ueberlegung.
In dieser aber werden mehrere Vorstellungen, oder de-
ren schon vorhandene Verbindungen, im Bewusstseyn
zusammen gehalten; sie durchdringen sich gegenseitig
und geben ein gemeinschaftliches Resultat.

Das Gegentheil hievon ist die Unvernunft, die keine
Gründe hören will oder kann; daher auch die Schwäche
der Kinder und der Thiere, die sich über den Eindruck
des Augenblicks nicht erheben können; und die Verblen-
dung der Leidenschaften mit ihrer falschen Vernunft.

schauen, welches gewöhnlich zur Sinnlichkeit gerechnet
wird, erst viel tiefer unten, nach der Lehre vom Selbst-
bewuſstseyn, kann in Betracht gezogen werden.

Desgleichen wolle man hier nicht nach dem innern
Sinne fragen. Er soll den Gegenstand des folgenden
Capitels ausmachen. Für jetzt haben wir andre, noch
dringendere Angelegenheiten zu besorgen.

Zur Uebersicht kann es nützlich seyn, wenn ich an
diesem Orte die schon in der Einleitung gegebenen Ana-
lysen von Verstand und Vernunft wieder in Erinne-
rung bringe; und daran noch ein paar Nebenbestimmun-
gen knüpfe.

Verstand nenne ich das Vermögen, sich im Denken
nach der Qualität des Gedachten zu richten.

Das Gegentheil hievon ist der Unverstand, der sich
als Mangel an Fassungskraft, als Zerstreutheit, Thorheit,
Verblendung durch Affecten äuſsert.

Die Qualität des Gedachten ist unabhängig von der
Stärke, welche zufällig eine Vorstellung vor andern be-
sitzt, und eben so von ihrer momentanen Aufregung.
Aber zur Qualität des Gedachten gehört

1) die Achnlichkeit und Verschiedenheit in demsel-
ben. Daher ist der Verstand ein logisches Vermögen.

2) Die Verknüpfung. Daher ist dem praktischen
Verstande stets die ganze Lage der Dinge gegenwärtig;
daher auch werden Zeichen verstanden, Sprachen ge-
lernt, u. dgl. m.

Vernunft nenne ich das Vermögen der Ueberlegung.
In dieser aber werden mehrere Vorstellungen, oder de-
ren schon vorhandene Verbindungen, im Bewuſstseyn
zusammen gehalten; sie durchdringen sich gegenseitig
und geben ein gemeinschaftliches Resultat.

Das Gegentheil hievon ist die Unvernunft, die keine
Gründe hören will oder kann; daher auch die Schwäche
der Kinder und der Thiere, die sich über den Eindruck
des Augenblicks nicht erheben können; und die Verblen-
dung der Leidenschaften mit ihrer falschen Vernunft.

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[165/0200] schauen, welches gewöhnlich zur Sinnlichkeit gerechnet wird, erst viel tiefer unten, nach der Lehre vom Selbst- bewuſstseyn, kann in Betracht gezogen werden. Desgleichen wolle man hier nicht nach dem innern Sinne fragen. Er soll den Gegenstand des folgenden Capitels ausmachen. Für jetzt haben wir andre, noch dringendere Angelegenheiten zu besorgen. Zur Uebersicht kann es nützlich seyn, wenn ich an diesem Orte die schon in der Einleitung gegebenen Ana- lysen von Verstand und Vernunft wieder in Erinne- rung bringe; und daran noch ein paar Nebenbestimmun- gen knüpfe. Verstand nenne ich das Vermögen, sich im Denken nach der Qualität des Gedachten zu richten. Das Gegentheil hievon ist der Unverstand, der sich als Mangel an Fassungskraft, als Zerstreutheit, Thorheit, Verblendung durch Affecten äuſsert. Die Qualität des Gedachten ist unabhängig von der Stärke, welche zufällig eine Vorstellung vor andern be- sitzt, und eben so von ihrer momentanen Aufregung. Aber zur Qualität des Gedachten gehört 1) die Achnlichkeit und Verschiedenheit in demsel- ben. Daher ist der Verstand ein logisches Vermögen. 2) Die Verknüpfung. Daher ist dem praktischen Verstande stets die ganze Lage der Dinge gegenwärtig; daher auch werden Zeichen verstanden, Sprachen ge- lernt, u. dgl. m. Vernunft nenne ich das Vermögen der Ueberlegung. In dieser aber werden mehrere Vorstellungen, oder de- ren schon vorhandene Verbindungen, im Bewuſstseyn zusammen gehalten; sie durchdringen sich gegenseitig und geben ein gemeinschaftliches Resultat. Das Gegentheil hievon ist die Unvernunft, die keine Gründe hören will oder kann; daher auch die Schwäche der Kinder und der Thiere, die sich über den Eindruck des Augenblicks nicht erheben können; und die Verblen- dung der Leidenschaften mit ihrer falschen Vernunft.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/200>, abgerufen am 23.04.2024.