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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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unter welchen Umständen die innere Wahrnehmung wirk-
lich erfolge, unter welchen andern sie ausbleibe.

Die gemeine Meinung unterscheidet bey der ausblei-
benden innern Wahrnehmung Fälle, in denen sie hätte
erfolgen können und sollen, von andern, in welchen sie
nicht sey zu verlangen gewesen, oder auch sich gar nicht
denken lasse. Z. B. Jemand übereilt sich, er erzählt,
was er verschweigen sollte, er lacht oder gähnt, wo da-
durch der Anstand verletzt wird. Hier hätte er die er-
sten Regungen bemerken, und ihnen widerstehen sollen.
Dasselbe kommt bey Affecten und Leidenschaften vor,
in dem Augenblicke, wo sie den Menschen seinen bes-
sern Gesinnungen entführen. -- Dagegen erwartet man
das Aufmerken auf seine innern Zustände nicht von dem
schwachen und ungebildeten Menschen; nicht von dem
Kinde; am wenigsten von dem Thiere. Aber auch von
dem gebildeten Manne verlangt man es nicht in Zustän-
den der Begeisterung; man hält es nicht für möglich,
dass ein Dichter und Erfinder über die Gedankenfolge
Rechenschaft ablege, die ihn allmählig bis auf den Punct
geführt habe, worauf er bewundert wird. Und man würde
Demjenigen nicht einmal glauben, der da vorgäbe, alle
Motive seiner Handlungen vollständig aufzählen und ab-
wägen, die Falten seines eignen Herzens gänzlich durch-
schauen zu können.

Vergleichen wir hiemit unsre zuvor aufgestellte Theo-
rie: so sehen wir, dass Alles darauf ankomme, ob die
appercipirende Vorstellungsmasse vorhanden, ob sie stark
genug war, theils um der zu appercipirenden in ihrem
Steigen zu widerstehen, theils um dieselbe in ihrem Sin-
ken vestzuhalten, ob sie dazu genug Berührungspuncte
mit jener, genug Gleichartiges hatte *); endlich wie bald
sie in Wirksamkeit trat, wie schnell sie sich der andern

*) Denn man vergesse nicht, dass das Vesthalten durch Ver-
schmelzungen geschieht, und dass die Verschmelzungen von der Gleich-
artigkeit der Vorstellungen abhängen.

unter welchen Umständen die innere Wahrnehmung wirk-
lich erfolge, unter welchen andern sie ausbleibe.

Die gemeine Meinung unterscheidet bey der ausblei-
benden innern Wahrnehmung Fälle, in denen sie hätte
erfolgen können und sollen, von andern, in welchen sie
nicht sey zu verlangen gewesen, oder auch sich gar nicht
denken lasse. Z. B. Jemand übereilt sich, er erzählt,
was er verschweigen sollte, er lacht oder gähnt, wo da-
durch der Anstand verletzt wird. Hier hätte er die er-
sten Regungen bemerken, und ihnen widerstehen sollen.
Dasselbe kommt bey Affecten und Leidenschaften vor,
in dem Augenblicke, wo sie den Menschen seinen bes-
sern Gesinnungen entführen. — Dagegen erwartet man
das Aufmerken auf seine innern Zustände nicht von dem
schwachen und ungebildeten Menschen; nicht von dem
Kinde; am wenigsten von dem Thiere. Aber auch von
dem gebildeten Manne verlangt man es nicht in Zustän-
den der Begeisterung; man hält es nicht für möglich,
daſs ein Dichter und Erfinder über die Gedankenfolge
Rechenschaft ablege, die ihn allmählig bis auf den Punct
geführt habe, worauf er bewundert wird. Und man würde
Demjenigen nicht einmal glauben, der da vorgäbe, alle
Motive seiner Handlungen vollständig aufzählen und ab-
wägen, die Falten seines eignen Herzens gänzlich durch-
schauen zu können.

Vergleichen wir hiemit unsre zuvor aufgestellte Theo-
rie: so sehen wir, daſs Alles darauf ankomme, ob die
appercipirende Vorstellungsmasse vorhanden, ob sie stark
genug war, theils um der zu appercipirenden in ihrem
Steigen zu widerstehen, theils um dieselbe in ihrem Sin-
ken vestzuhalten, ob sie dazu genug Berührungspuncte
mit jener, genug Gleichartiges hatte *); endlich wie bald
sie in Wirksamkeit trat, wie schnell sie sich der andern

*) Denn man vergesse nicht, daſs das Vesthalten durch Ver-
schmelzungen geschieht, und daſs die Verschmelzungen von der Gleich-
artigkeit der Vorstellungen abhängen.
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[219/0254] unter welchen Umständen die innere Wahrnehmung wirk- lich erfolge, unter welchen andern sie ausbleibe. Die gemeine Meinung unterscheidet bey der ausblei- benden innern Wahrnehmung Fälle, in denen sie hätte erfolgen können und sollen, von andern, in welchen sie nicht sey zu verlangen gewesen, oder auch sich gar nicht denken lasse. Z. B. Jemand übereilt sich, er erzählt, was er verschweigen sollte, er lacht oder gähnt, wo da- durch der Anstand verletzt wird. Hier hätte er die er- sten Regungen bemerken, und ihnen widerstehen sollen. Dasselbe kommt bey Affecten und Leidenschaften vor, in dem Augenblicke, wo sie den Menschen seinen bes- sern Gesinnungen entführen. — Dagegen erwartet man das Aufmerken auf seine innern Zustände nicht von dem schwachen und ungebildeten Menschen; nicht von dem Kinde; am wenigsten von dem Thiere. Aber auch von dem gebildeten Manne verlangt man es nicht in Zustän- den der Begeisterung; man hält es nicht für möglich, daſs ein Dichter und Erfinder über die Gedankenfolge Rechenschaft ablege, die ihn allmählig bis auf den Punct geführt habe, worauf er bewundert wird. Und man würde Demjenigen nicht einmal glauben, der da vorgäbe, alle Motive seiner Handlungen vollständig aufzählen und ab- wägen, die Falten seines eignen Herzens gänzlich durch- schauen zu können. Vergleichen wir hiemit unsre zuvor aufgestellte Theo- rie: so sehen wir, daſs Alles darauf ankomme, ob die appercipirende Vorstellungsmasse vorhanden, ob sie stark genug war, theils um der zu appercipirenden in ihrem Steigen zu widerstehen, theils um dieselbe in ihrem Sin- ken vestzuhalten, ob sie dazu genug Berührungspuncte mit jener, genug Gleichartiges hatte *); endlich wie bald sie in Wirksamkeit trat, wie schnell sie sich der andern *) Denn man vergesse nicht, daſs das Vesthalten durch Ver- schmelzungen geschieht, und daſs die Verschmelzungen von der Gleich- artigkeit der Vorstellungen abhängen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/254>, abgerufen am 25.04.2024.