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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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besonders die Frage, wieviel davon zugleich über der
Schwelle des Bewusstseyns sich erhalten kann. Physio-
logische Hemmung, reizbares Temperament, Vertiefung
in gewisse Fragen oder Sorgen, die fortdauernd den Kopf
einnehmen, sind gegenwirkende Kräfte, welche die Sphäre
der Apperception enger beschränken. -- Wir sehn hier
ein wichtiges Princip der Individualität. Sogar der
Einzelne ist in diesem Puncte von sich selbst verschie-
den, nach Alter und Geschlecht, nach Lagen und Lau-
nen; sein Merken und Nicht-Merken, sammt Allem was
davon abhängt, bleibt ihm Zeitlebens ein Räthsel. Für
den aufmerksamen Erzieher wird dies Räthsel noch bey
weitem grösser. Die offenen Augen und Ohren der einen,
der Stumpfsinn der andern, in Allem was Beobachtung
erfordert, bey gleicher Behandlung unter gleichen Um-
ständen, -- dieser Unterschied ist eine unläugbare That-
sache, die den Erfolg der sorgfältigsten Behandlung im
hohen Grade ungewiss macht.

Fasst man die Menschheit überhaupt ins Auge: so
verschwinden diese Unterschiede als unbedeutend gegen
den Abstand des Menschen und des Thiers. Die Mensch-
heit ist ein Individuum nach vergrössertem Maassstabe.
Die Stärke und Thätigkeit der Reflexion, (einer nähern
Bestimmung der Apperception,) ist der Sitz, wiewohl nicht
der erste Grund, ihrer geistigen Ueberlegenheit.


besonders die Frage, wieviel davon zugleich über der
Schwelle des Bewuſstseyns sich erhalten kann. Physio-
logische Hemmung, reizbares Temperament, Vertiefung
in gewisse Fragen oder Sorgen, die fortdauernd den Kopf
einnehmen, sind gegenwirkende Kräfte, welche die Sphäre
der Apperception enger beschränken. — Wir sehn hier
ein wichtiges Princip der Individualität. Sogar der
Einzelne ist in diesem Puncte von sich selbst verschie-
den, nach Alter und Geschlecht, nach Lagen und Lau-
nen; sein Merken und Nicht-Merken, sammt Allem was
davon abhängt, bleibt ihm Zeitlebens ein Räthsel. Für
den aufmerksamen Erzieher wird dies Räthsel noch bey
weitem gröſser. Die offenen Augen und Ohren der einen,
der Stumpfsinn der andern, in Allem was Beobachtung
erfordert, bey gleicher Behandlung unter gleichen Um-
ständen, — dieser Unterschied ist eine unläugbare That-
sache, die den Erfolg der sorgfältigsten Behandlung im
hohen Grade ungewiſs macht.

Faſst man die Menschheit überhaupt ins Auge: so
verschwinden diese Unterschiede als unbedeutend gegen
den Abstand des Menschen und des Thiers. Die Mensch-
heit ist ein Individuum nach vergröſsertem Maaſsstabe.
Die Stärke und Thätigkeit der Reflexion, (einer nähern
Bestimmung der Apperception,) ist der Sitz, wiewohl nicht
der erste Grund, ihrer geistigen Ueberlegenheit.


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[229/0264] besonders die Frage, wieviel davon zugleich über der Schwelle des Bewuſstseyns sich erhalten kann. Physio- logische Hemmung, reizbares Temperament, Vertiefung in gewisse Fragen oder Sorgen, die fortdauernd den Kopf einnehmen, sind gegenwirkende Kräfte, welche die Sphäre der Apperception enger beschränken. — Wir sehn hier ein wichtiges Princip der Individualität. Sogar der Einzelne ist in diesem Puncte von sich selbst verschie- den, nach Alter und Geschlecht, nach Lagen und Lau- nen; sein Merken und Nicht-Merken, sammt Allem was davon abhängt, bleibt ihm Zeitlebens ein Räthsel. Für den aufmerksamen Erzieher wird dies Räthsel noch bey weitem gröſser. Die offenen Augen und Ohren der einen, der Stumpfsinn der andern, in Allem was Beobachtung erfordert, bey gleicher Behandlung unter gleichen Um- ständen, — dieser Unterschied ist eine unläugbare That- sache, die den Erfolg der sorgfältigsten Behandlung im hohen Grade ungewiſs macht. Faſst man die Menschheit überhaupt ins Auge: so verschwinden diese Unterschiede als unbedeutend gegen den Abstand des Menschen und des Thiers. Die Mensch- heit ist ein Individuum nach vergröſsertem Maaſsstabe. Die Stärke und Thätigkeit der Reflexion, (einer nähern Bestimmung der Apperception,) ist der Sitz, wiewohl nicht der erste Grund, ihrer geistigen Ueberlegenheit.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/264>, abgerufen am 28.03.2024.