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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Alles, was man Schwäche des Geistes nennen kann,
wird sich entweder auf Unwissenheit, oder auf ein
Ausbleiben des rechten Gedankens im rechten
Augenblicke
zurückführen lassen. Das letztere ist es,
was uns jetzo beschäfftigt, denn die Unwissenheit ist
überall kein psychologischer Gegenstand.

Das Ausbleiben des rechten Gedankens wird zur
Ursache positiver Verkehrtheiten, wenn eine Vorstellungs-
reihe, die von jenem Gedanken würde zurückgehalten
seyn, indem sie nun von der ihr nöthigen Hemmung frey
bleibt, hervortritt, und sich auf eine Art äussert, die bey
wiederkehrender Besinnung wird gemisbilligt werden.

Diejenigen Fälle, wo der rechte Gedanke zu wenig
Energie besitzt, so dass auch wenn er ins Bewusstseyn
tritt, er dennoch die entgegengesetzte Vorstellungsreihe
nicht überwindet, sondern sich unter ihr beugt, müssen
hier abgesondert werden; sie ergeben, im Theoretischen,
Vorurtheile, im Praktischen, moralische Verderbniss und
eigentliche Bösartigkeit.

Aber verwandt mit Traum und Wahnsinn sind alle
die Fälle, wo ein hinlänglich starker Gedanke dennoch
seine Dienste versagt; indem er mit der Vorstel-
lungsreihe, die er nach sich bestimmen sollte,
nicht gehörig zusammentrifft
.

Erwägen wir zuvörderst das Gegentheil, die Beson-
nenheit
, in einigen Beyspielen! Man erwartet von ei-
nem klugen Kopfe, er werde in Umgangs-Cirkeln die
Verhältnisse der gegenwärtigen Personen, so weit sie ihm
bekannt sind, beachten, und kein Gespräch führen, das
einem der Anwesenden unangenehm werden muss. Von
dem Schachspieler, dass er die sämmtlichen Figuren in
ihren möglichen Wendungen überschaue, und sich dar-
nach richte. Von dem Staatsmanne, er überlege das In-
teresse einer jeden Macht und die Leidenschaften jedes
Mächtigen; er spüre jeden möglichen Betrug, und es
entgehe ihm kein Zeichen der ihm vortheilhaften oder
nachtheiligen Gesinnungen. Von dem Mathematiker, er

Alles, was man Schwäche des Geistes nennen kann,
wird sich entweder auf Unwissenheit, oder auf ein
Ausbleiben des rechten Gedankens im rechten
Augenblicke
zurückführen lassen. Das letztere ist es,
was uns jetzo beschäfftigt, denn die Unwissenheit ist
überall kein psychologischer Gegenstand.

Das Ausbleiben des rechten Gedankens wird zur
Ursache positiver Verkehrtheiten, wenn eine Vorstellungs-
reihe, die von jenem Gedanken würde zurückgehalten
seyn, indem sie nun von der ihr nöthigen Hemmung frey
bleibt, hervortritt, und sich auf eine Art äuſsert, die bey
wiederkehrender Besinnung wird gemisbilligt werden.

Diejenigen Fälle, wo der rechte Gedanke zu wenig
Energie besitzt, so daſs auch wenn er ins Bewuſstseyn
tritt, er dennoch die entgegengesetzte Vorstellungsreihe
nicht überwindet, sondern sich unter ihr beugt, müssen
hier abgesondert werden; sie ergeben, im Theoretischen,
Vorurtheile, im Praktischen, moralische Verderbniſs und
eigentliche Bösartigkeit.

Aber verwandt mit Traum und Wahnsinn sind alle
die Fälle, wo ein hinlänglich starker Gedanke dennoch
seine Dienste versagt; indem er mit der Vorstel-
lungsreihe, die er nach sich bestimmen sollte,
nicht gehörig zusammentrifft
.

Erwägen wir zuvörderst das Gegentheil, die Beson-
nenheit
, in einigen Beyspielen! Man erwartet von ei-
nem klugen Kopfe, er werde in Umgangs-Cirkeln die
Verhältnisse der gegenwärtigen Personen, so weit sie ihm
bekannt sind, beachten, und kein Gespräch führen, das
einem der Anwesenden unangenehm werden muſs. Von
dem Schachspieler, daſs er die sämmtlichen Figuren in
ihren möglichen Wendungen überschaue, und sich dar-
nach richte. Von dem Staatsmanne, er überlege das In-
teresse einer jeden Macht und die Leidenschaften jedes
Mächtigen; er spüre jeden möglichen Betrug, und es
entgehe ihm kein Zeichen der ihm vortheilhaften oder
nachtheiligen Gesinnungen. Von dem Mathematiker, er

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[503/0538] Alles, was man Schwäche des Geistes nennen kann, wird sich entweder auf Unwissenheit, oder auf ein Ausbleiben des rechten Gedankens im rechten Augenblicke zurückführen lassen. Das letztere ist es, was uns jetzo beschäfftigt, denn die Unwissenheit ist überall kein psychologischer Gegenstand. Das Ausbleiben des rechten Gedankens wird zur Ursache positiver Verkehrtheiten, wenn eine Vorstellungs- reihe, die von jenem Gedanken würde zurückgehalten seyn, indem sie nun von der ihr nöthigen Hemmung frey bleibt, hervortritt, und sich auf eine Art äuſsert, die bey wiederkehrender Besinnung wird gemisbilligt werden. Diejenigen Fälle, wo der rechte Gedanke zu wenig Energie besitzt, so daſs auch wenn er ins Bewuſstseyn tritt, er dennoch die entgegengesetzte Vorstellungsreihe nicht überwindet, sondern sich unter ihr beugt, müssen hier abgesondert werden; sie ergeben, im Theoretischen, Vorurtheile, im Praktischen, moralische Verderbniſs und eigentliche Bösartigkeit. Aber verwandt mit Traum und Wahnsinn sind alle die Fälle, wo ein hinlänglich starker Gedanke dennoch seine Dienste versagt; indem er mit der Vorstel- lungsreihe, die er nach sich bestimmen sollte, nicht gehörig zusammentrifft. Erwägen wir zuvörderst das Gegentheil, die Beson- nenheit, in einigen Beyspielen! Man erwartet von ei- nem klugen Kopfe, er werde in Umgangs-Cirkeln die Verhältnisse der gegenwärtigen Personen, so weit sie ihm bekannt sind, beachten, und kein Gespräch führen, das einem der Anwesenden unangenehm werden muſs. Von dem Schachspieler, daſs er die sämmtlichen Figuren in ihren möglichen Wendungen überschaue, und sich dar- nach richte. Von dem Staatsmanne, er überlege das In- teresse einer jeden Macht und die Leidenschaften jedes Mächtigen; er spüre jeden möglichen Betrug, und es entgehe ihm kein Zeichen der ihm vortheilhaften oder nachtheiligen Gesinnungen. Von dem Mathematiker, er

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/538>, abgerufen am 25.04.2024.