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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Schülers, dem der Unterricht zu schnell geht; und er-
messe alsdann den Taumel dessen, dem von Kindheit an
Alles zu rasch vorüberfährt! Wird dieser Taumel etwas
anderes seyn als Blödsinn?

Der angegebene Umstand scheint mir wenigstens
beym angebornen gelinden Blödsinn der wichtigste; und
überdies ist der Gedanke, dass die Zeit, welche der psy-
chologische Mechanismus verbraucht, durch den physio-
logischen Einfluss verlängert werde, so einfach und frucht-
bar, dass er wohl verdienen möchte, zuerst und vorzugs-
weise, wenn auch nicht einzig und allein, bey näheren
Untersuchungen dieses Gegenstandes erwogen zu werden.

§. 168.

Ich komme zuletzt zu dem eigentlichen Wahnsinn,
der, wenn auch nicht immer, doch wohl in den meisten
Fällen, durch eine fixe Idee bestimmt wird. Es liesse
sich wohl auch das Gegentheil denken, nämlich ein un-
regelmässig abwechselnder Wahn, der darum noch nicht
Narrheit wäre, indem jeder von den Hauptgedanken sich
in derjenigen Ausbildung zeigte, welche die Vernunft
nachahmt. Ich würde bestimmt behaupten, dass derglei-
chen Fälle vorkommen, wenn ich von einigen mir vor-
schwebenden Beyspielen hinreichend genaue und ausführ-
liche Nachrichten hätte. Im gemeinen Leben wenigstens
kommen Menschen vor, die bald dieser bald jener Schi-
märe nachlaufen, und deren Thorheit, falls Krankheit des
Leibes sie steigerte, in einen schweifenden Wahnsinn
übergehn müsste. Auch erzählt Pinel *) von einem
Uhrmacher, der das perpetuum mobile erfinden wollte;
hiedurch unmässig angestrengt, und überdies durch Re-
volntions-Ereignisse geschreckt, verfiel er in den Wahn,
sein Kopf sey unter der Guillotine nebst andern gefallen,
und er trage jetzt einen fremden, den man aus Ver-
wechselung ihm aufgesetzt, da die Richter ihr Urtheil
bereueten. Hier würde doppelter Wahnsinn entstanden

*) a. a. O. S. 66.

Schülers, dem der Unterricht zu schnell geht; und er-
messe alsdann den Taumel dessen, dem von Kindheit an
Alles zu rasch vorüberfährt! Wird dieser Taumel etwas
anderes seyn als Blödsinn?

Der angegebene Umstand scheint mir wenigstens
beym angebornen gelinden Blödsinn der wichtigste; und
überdies ist der Gedanke, daſs die Zeit, welche der psy-
chologische Mechanismus verbraucht, durch den physio-
logischen Einfluſs verlängert werde, so einfach und frucht-
bar, daſs er wohl verdienen möchte, zuerst und vorzugs-
weise, wenn auch nicht einzig und allein, bey näheren
Untersuchungen dieses Gegenstandes erwogen zu werden.

§. 168.

Ich komme zuletzt zu dem eigentlichen Wahnsinn,
der, wenn auch nicht immer, doch wohl in den meisten
Fällen, durch eine fixe Idee bestimmt wird. Es lieſse
sich wohl auch das Gegentheil denken, nämlich ein un-
regelmäſsig abwechselnder Wahn, der darum noch nicht
Narrheit wäre, indem jeder von den Hauptgedanken sich
in derjenigen Ausbildung zeigte, welche die Vernunft
nachahmt. Ich würde bestimmt behaupten, daſs derglei-
chen Fälle vorkommen, wenn ich von einigen mir vor-
schwebenden Beyspielen hinreichend genaue und ausführ-
liche Nachrichten hätte. Im gemeinen Leben wenigstens
kommen Menschen vor, die bald dieser bald jener Schi-
märe nachlaufen, und deren Thorheit, falls Krankheit des
Leibes sie steigerte, in einen schweifenden Wahnsinn
übergehn müſste. Auch erzählt Pinel *) von einem
Uhrmacher, der das perpetuum mobile erfinden wollte;
hiedurch unmäſsig angestrengt, und überdies durch Re-
volntions-Ereignisse geschreckt, verfiel er in den Wahn,
sein Kopf sey unter der Guillotine nebst andern gefallen,
und er trage jetzt einen fremden, den man aus Ver-
wechselung ihm aufgesetzt, da die Richter ihr Urtheil
bereueten. Hier würde doppelter Wahnsinn entstanden

*) a. a. O. S. 66.
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[522/0557] Schülers, dem der Unterricht zu schnell geht; und er- messe alsdann den Taumel dessen, dem von Kindheit an Alles zu rasch vorüberfährt! Wird dieser Taumel etwas anderes seyn als Blödsinn? Der angegebene Umstand scheint mir wenigstens beym angebornen gelinden Blödsinn der wichtigste; und überdies ist der Gedanke, daſs die Zeit, welche der psy- chologische Mechanismus verbraucht, durch den physio- logischen Einfluſs verlängert werde, so einfach und frucht- bar, daſs er wohl verdienen möchte, zuerst und vorzugs- weise, wenn auch nicht einzig und allein, bey näheren Untersuchungen dieses Gegenstandes erwogen zu werden. §. 168. Ich komme zuletzt zu dem eigentlichen Wahnsinn, der, wenn auch nicht immer, doch wohl in den meisten Fällen, durch eine fixe Idee bestimmt wird. Es lieſse sich wohl auch das Gegentheil denken, nämlich ein un- regelmäſsig abwechselnder Wahn, der darum noch nicht Narrheit wäre, indem jeder von den Hauptgedanken sich in derjenigen Ausbildung zeigte, welche die Vernunft nachahmt. Ich würde bestimmt behaupten, daſs derglei- chen Fälle vorkommen, wenn ich von einigen mir vor- schwebenden Beyspielen hinreichend genaue und ausführ- liche Nachrichten hätte. Im gemeinen Leben wenigstens kommen Menschen vor, die bald dieser bald jener Schi- märe nachlaufen, und deren Thorheit, falls Krankheit des Leibes sie steigerte, in einen schweifenden Wahnsinn übergehn müſste. Auch erzählt Pinel *) von einem Uhrmacher, der das perpetuum mobile erfinden wollte; hiedurch unmäſsig angestrengt, und überdies durch Re- volntions-Ereignisse geschreckt, verfiel er in den Wahn, sein Kopf sey unter der Guillotine nebst andern gefallen, und er trage jetzt einen fremden, den man aus Ver- wechselung ihm aufgesetzt, da die Richter ihr Urtheil bereueten. Hier würde doppelter Wahnsinn entstanden *) a. a. O. S. 66.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/557>, abgerufen am 29.03.2024.