Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
Einsprüngen und Episoden, aber immer unstät,
immer in Arbeit, im Fortschritt, im Werden.
Sogar bis auf einzelne Bilder, Schilderungen
und Verzierungen des Styls, erstrecket sich dieser
Unterschied zwischen beiden, Winkelmann der
Künstler, der gebildet hat, Leßing der schaffende
Poet. Jener ein erhabner Lehrer der Kunst; die-
ser selbst in der Philosophie seiner Schriften ein
muntrer Gesellschafter; sein Buch ein unterhalten-
der Dialog für unsern Geist.

So dörften beide seyn: und wie unterschieden!
wie vortreflich bei dem Unterschiede! Weg also mit
der Brille, durch die man von einem zum andern
spielen will, um durch Kontrast zu loben! Wer
L. und W. nicht lesen kann, wie jeder derselben ist,
der soll keinen von beiden, der soll sich selbst le-
sen! -- --

2.

W. schildert seinen Laokoon a), mit dem Ge-
fühl, als hätte er ihn selbst geschaffen: "Der Schmerz,
"welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des
"Körpers entdecket, und den man ganz allein, oh-
"ne das Gesicht und andre Theile zu betrachten,
"an dem schmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe
"selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage
"ich, äußert sich dennoch mit keiner Wuth im Ge-

"sicht
a) Von der Nachahmung griechischer Werke. S. 21. 22.

Erſtes Waͤldchen.
Einſpruͤngen und Epiſoden, aber immer unſtaͤt,
immer in Arbeit, im Fortſchritt, im Werden.
Sogar bis auf einzelne Bilder, Schilderungen
und Verzierungen des Styls, erſtrecket ſich dieſer
Unterſchied zwiſchen beiden, Winkelmann der
Kuͤnſtler, der gebildet hat, Leßing der ſchaffende
Poet. Jener ein erhabner Lehrer der Kunſt; die-
ſer ſelbſt in der Philoſophie ſeiner Schriften ein
muntrer Geſellſchafter; ſein Buch ein unterhalten-
der Dialog fuͤr unſern Geiſt.

So doͤrften beide ſeyn: und wie unterſchieden!
wie vortreflich bei dem Unterſchiede! Weg alſo mit
der Brille, durch die man von einem zum andern
ſpielen will, um durch Kontraſt zu loben! Wer
L. und W. nicht leſen kann, wie jeder derſelben iſt,
der ſoll keinen von beiden, der ſoll ſich ſelbſt le-
ſen! — —

2.

W. ſchildert ſeinen Laokoon a), mit dem Ge-
fuͤhl, als haͤtte er ihn ſelbſt geſchaffen: „Der Schmerz,
„welcher ſich in allen Muskeln und Sehnen des
„Koͤrpers entdecket, und den man ganz allein, oh-
„ne das Geſicht und andre Theile zu betrachten,
„an dem ſchmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe
„ſelbſt zu empfinden glaubt; dieſer Schmerz, ſage
„ich, aͤußert ſich dennoch mit keiner Wuth im Ge-

„ſicht
a) Von der Nachahmung griechiſcher Werke. S. 21. 22.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0021" n="15"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
Ein&#x017F;pru&#x0364;ngen und Epi&#x017F;oden, aber immer un&#x017F;ta&#x0364;t,<lb/>
immer in Arbeit, im Fort&#x017F;chritt, im Werden.<lb/>
Sogar bis auf einzelne Bilder, Schilderungen<lb/>
und Verzierungen des Styls, er&#x017F;trecket &#x017F;ich die&#x017F;er<lb/>
Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen beiden, <hi rendition="#fr">Winkelmann</hi> der<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler, der gebildet hat, <hi rendition="#fr">Leßing</hi> der &#x017F;chaffende<lb/>
Poet. Jener ein erhabner Lehrer der Kun&#x017F;t; die-<lb/>
&#x017F;er &#x017F;elb&#x017F;t in der Philo&#x017F;ophie &#x017F;einer Schriften ein<lb/>
muntrer Ge&#x017F;ell&#x017F;chafter; &#x017F;ein Buch ein unterhalten-<lb/>
der Dialog fu&#x0364;r un&#x017F;ern Gei&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>So do&#x0364;rften beide &#x017F;eyn: und wie unter&#x017F;chieden!<lb/>
wie vortreflich bei dem Unter&#x017F;chiede! Weg al&#x017F;o mit<lb/>
der Brille, durch die man von einem zum andern<lb/>
&#x017F;pielen will, um durch Kontra&#x017F;t zu loben! Wer<lb/>
L. und W. nicht le&#x017F;en kann, wie jeder der&#x017F;elben i&#x017F;t,<lb/>
der &#x017F;oll keinen von beiden, der &#x017F;oll &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t le-<lb/>
&#x017F;en! &#x2014; &#x2014;</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>2.</head><lb/>
          <p>W. &#x017F;childert &#x017F;einen <hi rendition="#fr">Laokoon</hi> <note place="foot" n="a)">Von der Nachahmung griechi&#x017F;cher Werke. S. 21. 22.</note>, mit dem Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl, als ha&#x0364;tte er ihn &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;chaffen: &#x201E;Der Schmerz,<lb/>
&#x201E;welcher &#x017F;ich in allen Muskeln und Sehnen des<lb/>
&#x201E;Ko&#x0364;rpers entdecket, und den man ganz allein, oh-<lb/>
&#x201E;ne das Ge&#x017F;icht und andre Theile zu betrachten,<lb/>
&#x201E;an dem &#x017F;chmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe<lb/>
&#x201E;&#x017F;elb&#x017F;t zu empfinden glaubt; die&#x017F;er Schmerz, &#x017F;age<lb/>
&#x201E;ich, a&#x0364;ußert &#x017F;ich dennoch mit keiner Wuth im Ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;&#x017F;icht</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0021] Erſtes Waͤldchen. Einſpruͤngen und Epiſoden, aber immer unſtaͤt, immer in Arbeit, im Fortſchritt, im Werden. Sogar bis auf einzelne Bilder, Schilderungen und Verzierungen des Styls, erſtrecket ſich dieſer Unterſchied zwiſchen beiden, Winkelmann der Kuͤnſtler, der gebildet hat, Leßing der ſchaffende Poet. Jener ein erhabner Lehrer der Kunſt; die- ſer ſelbſt in der Philoſophie ſeiner Schriften ein muntrer Geſellſchafter; ſein Buch ein unterhalten- der Dialog fuͤr unſern Geiſt. So doͤrften beide ſeyn: und wie unterſchieden! wie vortreflich bei dem Unterſchiede! Weg alſo mit der Brille, durch die man von einem zum andern ſpielen will, um durch Kontraſt zu loben! Wer L. und W. nicht leſen kann, wie jeder derſelben iſt, der ſoll keinen von beiden, der ſoll ſich ſelbſt le- ſen! — — 2. W. ſchildert ſeinen Laokoon a), mit dem Ge- fuͤhl, als haͤtte er ihn ſelbſt geſchaffen: „Der Schmerz, „welcher ſich in allen Muskeln und Sehnen des „Koͤrpers entdecket, und den man ganz allein, oh- „ne das Geſicht und andre Theile zu betrachten, „an dem ſchmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe „ſelbſt zu empfinden glaubt; dieſer Schmerz, ſage „ich, aͤußert ſich dennoch mit keiner Wuth im Ge- „ſicht a) Von der Nachahmung griechiſcher Werke. S. 21. 22.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/21
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/21>, abgerufen am 19.04.2024.