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[Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778.

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lose größer dünkt, als das Belebte, wo jede
Durchregung des Hauches der Seele uns Glie-
der und Unterschiede darstellt: (denn eine abge-
hauenkalte Hand dünkt unserm Gefühl und selbst
unserm Auge größer, als da sie Glied am Kör-
per war und Leben sie durchwallte). Und neh-
men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in
der der Sinn tastet, die langsam erfühlte Ein-
heit
und Unbezeichnung, die ein solches Bild
verleihet, den Begrif von Macht und Fülle,
langsamem und starkem Willen, der in dem Ge-
bäu wohnet: so kann nicht blos, so muß gleich-
sam jeder hohe und starke Gott, jede Göttin der
Erhabenheit und Ehrfurcht, unsrer Einbildung
Kolossalisch und wenigstens übermenschlich wer-
den über unsre Zwergengröße. Die bildende
Kunst tritt hier in die Mitte zwischen Dichter
und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen,
als die ihm der Flug seiner Phantasie und die
Schöpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen.
Sein Auge wie der unendliche Shakespear
sagt:
Jn a fine frenzy rolling
Doth glance from heav'n to earth, from earth
to heav'n,
And as imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poets pen
Turns them to shape and gives to aiery nothing
A local habitation and a name
--

ja,

loſe groͤßer duͤnkt, als das Belebte, wo jede
Durchregung des Hauches der Seele uns Glie-
der und Unterſchiede darſtellt: (denn eine abge-
hauenkalte Hand duͤnkt unſerm Gefuͤhl und ſelbſt
unſerm Auge groͤßer, als da ſie Glied am Koͤr-
per war und Leben ſie durchwallte). Und neh-
men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in
der der Sinn taſtet, die langſam erfuͤhlte Ein-
heit
und Unbezeichnung, die ein ſolches Bild
verleihet, den Begrif von Macht und Fuͤlle,
langſamem und ſtarkem Willen, der in dem Ge-
baͤu wohnet: ſo kann nicht blos, ſo muß gleich-
ſam jeder hohe und ſtarke Gott, jede Goͤttin der
Erhabenheit und Ehrfurcht, unſrer Einbildung
Koloſſaliſch und wenigſtens uͤbermenſchlich wer-
den uͤber unſre Zwergengroͤße. Die bildende
Kunſt tritt hier in die Mitte zwiſchen Dichter
und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen,
als die ihm der Flug ſeiner Phantaſie und die
Schoͤpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen.
Sein Auge wie der unendliche Shakeſpear
ſagt:
Jn a fine frenzy rolling
Doth glance from heav’n to earth, from earth
to heav’n,
And as imagination bodies forth
The forms of things unknown, the poets pen
Turns them to ſhape and gives to aiery nothing
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[124/0127] loſe groͤßer duͤnkt, als das Belebte, wo jede Durchregung des Hauches der Seele uns Glie- der und Unterſchiede darſtellt: (denn eine abge- hauenkalte Hand duͤnkt unſerm Gefuͤhl und ſelbſt unſerm Auge groͤßer, als da ſie Glied am Koͤr- per war und Leben ſie durchwallte). Und neh- men wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in der der Sinn taſtet, die langſam erfuͤhlte Ein- heit und Unbezeichnung, die ein ſolches Bild verleihet, den Begrif von Macht und Fuͤlle, langſamem und ſtarkem Willen, der in dem Ge- baͤu wohnet: ſo kann nicht blos, ſo muß gleich- ſam jeder hohe und ſtarke Gott, jede Goͤttin der Erhabenheit und Ehrfurcht, unſrer Einbildung Koloſſaliſch und wenigſtens uͤbermenſchlich wer- den uͤber unſre Zwergengroͤße. Die bildende Kunſt tritt hier in die Mitte zwiſchen Dichter und Mahler. Jener kennt gar keine Grenzen, als die ihm der Flug ſeiner Phantaſie und die Schoͤpfersmacht, die in ihm wohnet, zeichnen. Sein Auge wie der unendliche Shakeſpear ſagt: Jn a fine frenzy rolling Doth glance from heav’n to earth, from earth to heav’n, And as imagination bodies forth The forms of things unknown, the poets pen Turns them to ſhape and gives to aiery nothing A local habitation and a name — ja,

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Plastik. Riga u. a., 1778, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_plastik_1778/127>, abgerufen am 20.04.2024.