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Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896.

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Sprache.

Vielleicht denkt jemand, es werde eine Schwierigkeit sein,
dass wir keine gemeinsame Sprache mehr haben. Wir können
doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiss
genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?
Das gibt es nicht. Dennoch ist die Sache sehr einfach.
Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner
Gedanken ist. Für die Möglichkeit des Sprachenföderalismus
ist die Schweiz ein endgiltiges Beispiel. Wir werden auch
drüben bleiben, was wir jetzt sind, sowie wir nie aufhören
werden, unsere Vaterländer, aus denen wir verdrängt wurden,
mit Wehmuth zu lieben.

Die verkümmerten und verdrückten Jargons, deren wir
uns jetzt bedienen, diese Ghettosprachen werden wir uns abgewöhnen.
Es waren die verstohlenen Sprachen von Gefangenen.
Unsere Volkslehrer werden dieser Sache ihre Aufmerksamkeit
zuwenden. Die dem allgemeinen Verkehre am meisten nützende
Sprache wird sich zwanglos als Hauptsprache einsetzen. Unsere
Volksgemeinschaft ist ja eine eigenthümliche, einzige. Wir erkennen
uns eigentlich nur noch am väterlichen Glauben als zusammengehörig.



Theokratie.

Werden wir also am Ende eine Theokratie haben? Nein!
Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns
frei. Wir werden daher theokratische Velleitäten unserer Geistlichen
gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren
Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den
Kasernen festhalten werden. Heer und Clerus sollen so hoch
geehrt werden, wie es ihre schönen Functionen erfordern und
verdienen. In den Staat, der sie auszeichnet, haben sie nichts
dreinzureden, denn sie würden äussere und innere Schwierigkeiten
heraufbeschwören.

Jeder ist in seinem Bekenntniss oder in seinem Unglauben
so frei und unbeschränkt, wie in seiner Nationalität. Und fügt
es sich, dass auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns

Sprache.

Vielleicht denkt jemand, es werde eine Schwierigkeit sein,
dass wir keine gemeinsame Sprache mehr haben. Wir können
doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiss
genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?
Das gibt es nicht. Dennoch ist die Sache sehr einfach.
Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner
Gedanken ist. Für die Möglichkeit des Sprachenföderalismus
ist die Schweiz ein endgiltiges Beispiel. Wir werden auch
drüben bleiben, was wir jetzt sind, sowie wir nie aufhören
werden, unsere Vaterländer, aus denen wir verdrängt wurden,
mit Wehmuth zu lieben.

Die verkümmerten und verdrückten Jargons, deren wir
uns jetzt bedienen, diese Ghettosprachen werden wir uns abgewöhnen.
Es waren die verstohlenen Sprachen von Gefangenen.
Unsere Volkslehrer werden dieser Sache ihre Aufmerksamkeit
zuwenden. Die dem allgemeinen Verkehre am meisten nützende
Sprache wird sich zwanglos als Hauptsprache einsetzen. Unsere
Volksgemeinschaft ist ja eine eigenthümliche, einzige. Wir erkennen
uns eigentlich nur noch am väterlichen Glauben als zusammengehörig.



Theokratie.

Werden wir also am Ende eine Theokratie haben? Nein!
Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns
frei. Wir werden daher theokratische Velleitäten unserer Geistlichen
gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren
Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den
Kasernen festhalten werden. Heer und Clerus sollen so hoch
geehrt werden, wie es ihre schönen Functionen erfordern und
verdienen. In den Staat, der sie auszeichnet, haben sie nichts
dreinzureden, denn sie würden äussere und innere Schwierigkeiten
heraufbeschwören.

Jeder ist in seinem Bekenntniss oder in seinem Unglauben
so frei und unbeschränkt, wie in seiner Nationalität. Und fügt
es sich, dass auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns

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[0075] Sprache. Vielleicht denkt jemand, es werde eine Schwierigkeit sein, dass wir keine gemeinsame Sprache mehr haben. Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiss genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen? Das gibt es nicht. Dennoch ist die Sache sehr einfach. Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist. Für die Möglichkeit des Sprachenföderalismus ist die Schweiz ein endgiltiges Beispiel. Wir werden auch drüben bleiben, was wir jetzt sind, sowie wir nie aufhören werden, unsere Vaterländer, aus denen wir verdrängt wurden, mit Wehmuth zu lieben. Die verkümmerten und verdrückten Jargons, deren wir uns jetzt bedienen, diese Ghettosprachen werden wir uns abgewöhnen. Es waren die verstohlenen Sprachen von Gefangenen. Unsere Volkslehrer werden dieser Sache ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Die dem allgemeinen Verkehre am meisten nützende Sprache wird sich zwanglos als Hauptsprache einsetzen. Unsere Volksgemeinschaft ist ja eine eigenthümliche, einzige. Wir erkennen uns eigentlich nur noch am väterlichen Glauben als zusammengehörig. Theokratie. Werden wir also am Ende eine Theokratie haben? Nein! Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns frei. Wir werden daher theokratische Velleitäten unserer Geistlichen gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden. Heer und Clerus sollen so hoch geehrt werden, wie es ihre schönen Functionen erfordern und verdienen. In den Staat, der sie auszeichnet, haben sie nichts dreinzureden, denn sie würden äussere und innere Schwierigkeiten heraufbeschwören. Jeder ist in seinem Bekenntniss oder in seinem Unglauben so frei und unbeschränkt, wie in seiner Nationalität. Und fügt es sich, dass auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns

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Zitationshilfe: Herzl, Theodor: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig u. a., 1896, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herzl_judenstaat_1896/75>, abgerufen am 24.04.2024.